Was macht die Zeit mit Menschen, wenn der Zustand des Wartens kein flüchtiger Moment ist, sondern sich bis zur Unendlichkeit ausdehnt? Der dänische Filmemacher Emil Langballe begleitet in seinem Film „The Wait“ (DK 2016) die 14-jährige Rokhsar, die 2010 mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Dänemark geflüchtet ist. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, jeden Augenblick kann die Polizei sie holen. Rokhsar geht zur Schule, kommuniziert mit Anwälten und Behörden – sechs Jahre lang.
Im Vorfeld des Festivals haben sich die doxs!-PraktikantInnen Jasmin, Marlon und Finn mit dem Regisseur über den langen Drehzeitraum, den Umgang mit einer labilen Protagonistin und das politische Klima gegenüber Migranten in Dänemark unterhalten:
Wie haben Sie Rokhsar und die Familie kennengelernt?
In den dänischen Medien wurde über einige Fälle berichtet, in denen asylsuchende Menschen im staatlichen Aufnahmeverfahren feststeckten, von diesem System entweder sehr unmenschlich behandelt wurden oder teilweise bereits seit Jahren in der Schwebe auf eine Entscheidung warteten. Meine Produzentin und mich hat diese Entwicklung sehr beunruhigt, und wir haben uns zusammengesetzt, um gemeinsam zu überlegen, wie man darüber einen Film machen könnte.
So kamen wir auf die Idee, einen Film über einen dänischen Anwalt zu drehen – einen wirklich großherzigen Menschen –, der viele dieser Fälle bearbeitet. Er hat versucht, Rokhsar und ihrer Familie zu helfen, und so haben wir begonnen, ihren Fall zu verfolgen. Und je mehr wir mit Rokhsar filmten, desto wütender machte uns die Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielte. Nach einer Weile wurde uns klar, dass wir den ganzen Film über Rokhsar und ihre Familie machen mussten.
Bevor wir mit den Dreharbeiten anfingen, haben wir sie ein paar Mal getroffen. Drei Wochen nachdem wir sie kennengelernt hatten, begannen wir langsam zu filmen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir jedoch noch nicht, ob es ein ganzer Film über sie werden sollte, oder ob wir ihren Fall nur als einen von vielen erzählen würden.
Für die Familie war es sehr schwer ihre Geschichte mit uns zu teilen, da sie extrem traumatisiert war, sodass es lange dauerte, bis sie sich uns gegenüber öffnete.
Warum konzentriert sich der Film auf Rokhsar? Was machen ihre Geschwister?
Wie im Film deutlich wird, hat dieses Leben in der Ungewissheit die Dynamik in der Familie verändert. Da Rokhsar die erste war, die Dänisch lernte, musste sie unfreiwillig die Rolle eines Elternteils für ihre eigenen Eltern und die Rolle eines Anwalts für die Familie übernehmen und eine Menge Entscheidungen treffen, zu denen kein Kind gezwungen sein sollte. Dies mit anzusehen war einerseits niederschmetternd, gleichzeitig aber auch ein interessanter Konflikt, den wir filmen wollten. Und das ist der Grund, weshalb wir uns dazu entschieden haben, uns auf sie als Hauptfigur zu konzentrieren. Zudem ist sie diejenige, die am besten in die dänische Gesellschaft integriert ist und somit am meisten zu verlieren hat, falls die Familie abgeschoben wird – für sie steht sehr viel auf dem Spiel.
Wir haben auch zusätzliches Material mit ihren Geschwistern gefilmt. Dieses hat es jedoch nicht in den finalen Film geschafft, da der Hauptkonflikt und die Tragödie sich in Rokhsar bündelten. Sie war auch diejenige, die von Anfang an sehr motiviert war, den Film zu machen und Bescheid sagte, wenn es etwas zu drehen gab, während ihre Eltern und Geschwister zunächst skeptischer waren. Es gelang ihr jedoch, sie davon zu überzeugen, dass sie alle Teil davon sein sollten. Es war Rokhsar sehr wichtig, eine Stimme zu bekommen und der Welt von ihrer schwierigen Situation zu erzählen, damit andere Kinder von Migranten nicht dieselben Anstrengungen durchleben müssen.
Wie haben Rokhsar und ihre Familie auf den Film reagiert?
Sie haben alle geweint und waren am Boden zerstört. Es schien, als hätten sie viele Szenen aus dem Film vergessen und würden während des Schauens alles noch einmal erleben. Besonders Rokhsars Mutter weinte fast die ganze Zeit – ich glaube, es war das erste Mal, dass ihr vollkommen klar wurde, was ihre Tochter durchgemacht hatte.
Zudem hatten sie das Filmmaterial von ihrer Familien-Wiedervereinigung nach der Flucht noch nicht gesehen und waren besonders gerührt von den Bildern. Sie mochten den Film wirklich sehr und waren extrem dankbar für die Art, wie wir ihn gemacht hatten.
Wie lief die Zusammenarbeit mit Rokhsar und ihrer Familie?
Als wir mit dem Filmen begannen, stand die Familie kurz vor ihrer Abschiebung und wir dachten, dass es nur eine Frage von ein paar Monaten sein würde, bevor sie in ein Flugzeug nach Afghanistan gesetzt würden. So war unser Plan, den ersten Teil über Rokhsars Leben in Dänemark zu drehen, über ein dänisches Mädchen mit Fußball, Schule und Freunden. Nach der Abschiebung wollten wir der Familie folgen, um zu zeigen, was passiert, wenn wir Menschen nach so vielen Jahren hier (in Dänemark) zurück in ein so unsicheres Land schicken. Doch dann zog sich ihr Fall weiter und weiter hin, und wir entschlossen uns, den Fokus zu verlegen und den Film über das Warten selbst zu machen. Der Film fand also während des Drehprozesses zu seiner jetzigen Form.
Wir wollten Rokhsar und ihre Familie während dieser schweren Zeit eng mit unserer Kamera begleiten, um die Zuschauer so möglichst direkt teilhaben zu lassen und ihnen ein Gefühl davon zu vermitteln, wie es ist, mit dieser Ungewissheit und dem Gefühl von Klaustrophobie und Machtlosigkeit zu leben. Irgendwie schien diese rein beobachtende Art und Weise des Filmens ihre Gefühle und Erfahrungen aufrichtiger wiederzugeben als klassische Interviewsituationen. Manchmal wollten wir jedoch wissen, was in Rokhsars Kopf vorging, sozusagen ihren Gedanken und Gefühlen zuhören. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, ihre Stimme als Hintergrundkommentar zu nutzen.
Unser Team war sehr klein, nur ich und meine Co-Regisseurin Andrea. Sie hat den Ton gemacht und ich die Kamera. Oft haben wir nur 30 bis 60 Minuten am Stück gefilmt, bevor wir wieder gegangen sind. Uns war klar, wir verletzlich sie waren und wollten ihre Bedürfnisse unbedingt achten. Sie waren jedoch nie verärgert über uns, und wir hatten nie das Gefühl, dass wir ihnen zu nahegetreten wären. Sie schienen tatsächlich erleichtert, dass ihnen endlich jemand zuhörte und ihnen eine Stimme gab. Besonders Rokhsar schien es sehr wichtig zu sein, dass jemand festhielt, was sie durchmachte, und so war sie auch unsere engste Verbündete.
Wie lange hat es gedauert den Film zu machen, und gab es jemals einen Punkt, an dem Sie aufgeben wollten? Mit welchen Problemen waren Sie konfrontiert?
Wir haben den Film über einen Zeitraum von zwei Jahren produziert und hatten etwa 60-70 Stunden Material. 95% des Materials stammt von uns, aber wir haben auch Aufnahmen von den Handys der Familie verwendet. Die Wiedervereinigung der Familie wurde von einem anderen Kameramann gefilmt, der auch Immigranten für ein Filmprojekt aufnahm, das nie realisiert wurde, und wir bekamen die Erlaubnis, das Material in unserem Film zu verwenden.
Unsere größte und konstante Herausforderung war es, mit einer sehr verletzlichen und manchmal selbstmordgefährdeten Hauptdarstellerin zu arbeiten, weshalb wir viel darüber diskutierten, wie viel wir mit ihr filmen konnten, ohne ihr zusätzlichen Druck aufzubürden. Wir stellten mit Rokhsar die Regel auf, dass sie uns jederzeit absagen konnte, und dass sie nie dazu verpflichtet war, mit uns zu drehen, wenn sie sich nicht bereit dazu fühlte.
Wir verbrachten auch viel Zeit damit, einfach mit ihr darüber zu reden, wie es ihr gerade ging, da sie ihre Eltern nicht mit noch mehr Traurigkeit belasten wollte. Auf eine Art gehörten wir so zu den wenigen Personen, mit denen sie offen über ihre Gefühle sprechen konnte.
Als Rokhsar ihren Nervenzusammenbruch hatte, haben wir alles auf Eis gelegt und darüber beraten, ob wir die Produktion stoppen und das Projekt aufgeben sollten. Aber etwa einen Monat nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, überzeugte sie uns davon, weiterzumachen, und ihre Familie unterstütze sie bei dieser Entscheidung. Sie war entschlossen, dass die Welt sehen sollte, was sie durchmachte. Und nach Rücksprache mit verschiedenen Menschen, die ihren Zustand beurteilen konnten, begannen wir langsam wieder mit den Dreharbeiten.
Wir hatten vor, weiter zu filmen, bis der Fall abschließend entschieden war, und das entsprach auch der Absprache mit Rokhsar und ihrer Familie. Aber Rokhsars Gesundheitszustand verschlechterte sich immer mehr. Und wir vermuteten, dass der Film ihren Fall möglicherweise positiv beeinflussen könnte, wenn er noch vor einer Entscheidung veröffentlicht würde. Also begannen wir nach Alternativen und einem offeneren Ende zu suchen. Und nachdem wir das letzte Telefonat gefilmt hatten, merkten wir, dass wir den Film mit dieser Szene enden lassen können und die Zuschauer mit derselben Frustration zurücklassen, welche die Familie erlebte.
Am Ende des Films geht es Rokhsar psychisch sehr schlecht. Wir geht es ihr heute? Haben Sie immer noch Kontakt zu ihr und kann sie in Dänemark bleiben?
Der Film wurde im nationalen Fernsehen ausgestrahlt und stieß in Dänemark eine große Debatte über die Wartezeiten Asylsuchender an. Im Besonderen wurde darüber diskutiert, wie das System Rokhsar behandelt hatte, und wie sie dazu gezwungen war, als Übersetzerin und Puffer zwischen dem System und ihren Eltern zu agieren.
Das politische Klima gegenüber Migranten in Dänemark ist sehr polarisiert, das heißt, dass viele Menschen ihre Sache unterstützten, viele andere aber auch der Meinung waren, dass sie das Land trotzdem verlassen sollten. Durch die Wirkung des Films und die daraus resultierende Debatte wurde der Fall von Rokhsar und ihrer Familie einen Monat nach der Ausstrahlung erneut geprüft. Sie erhielten alle eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund von Rokhsars anfälligem Zustand und dem, was sie in ihrer Zeit in Dänemark durchmachen musste.
Heute erholt sich Rokhsar langsam, und sie wird immer glücklicher und lebhafter. Sie geht wieder zur Schule und ist auch wieder Teil der Fußballmannschaft. Wir sprechen sehr oft mit ihr.
(Von Jasmin Kreislos, Marlon Miketta und Finn Schenkin. Übersetzung aus dem Englischen: Jasmin Kreilos, Barbara Fischer-Rittmeyer)