Die Zunge des Kabeljaus ist eine weltweit beliebte Delikatesse. In Nordnorwegen wird sie hingegen als einfaches Alltagsgericht angesehen. Sie von den Fischköpfen zu trennen, ist eine Aufgabe, die dort traditionell für Kinder reserviert ist. Die norwegische Filmemacherin Solveig Melkeraaen hat selbst als junges Mädchen in der Fischfabrik ihres Heimatdorfes gearbeitet. In ihrem Film „Tungeskjærerne – Die Zungenschneider“ begleitet sie ihre in Oslo aufgewachsene 9-jährige Nichte in die Provinz. Yvla soll die Familientradition fortsetzen.
Über die traditionelle Strukturen in ihrer Heimat, ihre Meinung zur Arbeit von Kindern und Inszenierungsformen beim Dokumentarfilm hat sich Solveig Melkeraaen mit den doxs!-PraktikantInnen Jasmin, Marlon und Finn im Vorfeld des Festivals ausgetauscht:
Sie waren als Kind selbst Zungenschneiderin. Wie hat es Ihnen gefallen und was haben Sie in dieser Zeit gelernt? Inwiefern ist das Zungenschneiden eine Tradition in Ihrer Familie? Erzeugt es familiären Zusammenhalt?
Ich habe mit sechs Jahren mit dem Zungenschneiden angefangen. Mein Großvater und mein Onkel waren Fischer, so dass mein Cousin und ich zusammen als Zungenschneider gearbeitet haben, und ich habe es geliebt! Es war extrem aufregend, auf die Ankunft der Boote zu warten und dann zum Kai zu rennen, um zu sehen, wie viel Fisch sie gefangen hatten. Durch das Zusammensein mit meinem Großvater und meinem Onkel habe ich viel über die Fischereikultur und meine Herkunft gelernt. Mein Cousin und ich hatten viel Spaß zusammen, wir lernten viel darüber, was es bedeutet eine Arbeit zu haben und vor allem, dass Arbeit Spaß machen kann. Ich bin weggezogen, aber mein Cousin ist geblieben und Fischer geworden, wie mein Onkel und mein Großvater. Ich bin sehr stolz darauf, Teil dieser Kultur zu sein. Wenn ich nach Hause reise, um meine Eltern, die immer noch in dieser Gemeinde leben, zu besuchen, treffe ich mich immer mit meinem Cousin am Kai. Da mir meine Herkunft sehr viel bedeutet, war es absolut großartig für mich, diesen Film zu machen, der Teil meiner eigenen Kindheit und Erinnerung ist.
Die Kinder schneiden Zungen für Geld. Wo, glauben Sie, liegt die Grenze zwischen angemessener Arbeit für Kinder und Kinderarbeit?
Das Zungenschneiden ist eine Tradition, die hunderte Jahre zurückreicht, und es war immer eine Arbeit, die von Kindern ausgeführt wurde. Abgesehen davon, dass es eine wichtige Tradition ist, sind alle Jungen, mit denen ich aufgewachsen bin, selbst Fischer geworden, so dass es auch ein wichtiger Ort zum Lernen und zum Anwerben neuer Fischer ist. Außerdem denke ich, dass eine Unterscheidung zwischen angemessener Arbeit für Kinder und Kinderarbeit viel mit der Frage zu tun hat, ob die Kinder freiwillig arbeiten, weil es ihnen Spaß macht, oder ob sie dazu gezwungen werden. Die Kinder, die Zungen in Nordnorwegen schneiden, tun dies, weil es ihnen Spaß macht, nicht weil sie dazu gezwungen werden. Sie verdienen ihr eigenes Geld, sie lernen, dass die Dinge, die sie bekommen, nicht umsonst sind, und dass es noch mehr Freude macht, etwas mit ihrem selbst verdienten Geld zu kaufen, als wenn sie es nur von ihren Eltern bekommen. Norwegen ist eines der reichsten Länder der Welt und viele der Kinder, die hier aufwachsen, sind sehr verwöhnt. In diesem Zusammenhang würde ich auch so weit gehen zu sagen, dass eigentlich noch viel mehr Kinder in Norwegen als Zungenschneider arbeiten sollten, damit sie lernen, dass Geld nicht so einfach zu beschaffen ist.
Wie kam Ihnen die Idee zu dem Film? Wollten Sie immer einen Film zu dem Thema machen oder hat Ylva den Anstoß dazu gegeben?
Durch meine eigenen Erfahrungen als Zungenschneiderin hatte ich schon lange den Wunsch, diese einzigartige Kultur und die tollen Kinder, die daheim als Zungenschneider arbeiten, zu dokumentieren. Ylva kam dazu, als ich schon damit begonnen hatte, den Film zu entwickeln. Die Idee, sie in den Film zu integrieren, kam mir, weil sie unbedingt in den Norden reisen wollte, um das Zungenschneiden zu lernen, weil sie von mir und meiner Schwester (ihrer Mutter) so viel darüber gehört hatte. Ich dachte auch, dass es eine gute Idee wäre, ein Kind aus der Stadt bei seiner Reise in eine fremde Umgebung zu begleiten, damit alle Kinder, die nicht Zungen schneiden (und das sind die meisten Kinder in Norwegen und der Welt), jemanden haben, mit dem sie sich identifizieren können. Ich glaube, dass Ylva eine wirklich gute Besetzung ist, und als sie sich auch noch so gut mit Tobias verstand, war ich davon überzeugt, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Wie war die Arbeit mit den Kindern? Welche Schwierigkeiten gab es und wie haben Sie diese gelöst?
„Tongue Cutters” ist mein erster Film über Kinder, aber es wird nicht mein letzter sein. Ich habe es sehr genossen mit den Kindern zusammen zu sein, und es gab am Set keine größeren Schwierigkeiten.
Hat sich Ihre Beziehung zu Ylva während der Dreharbeiten geändert? Gefällt ihr der Film?
Als Ylvas Tante hatte ich immer schon eine sehr enge Bindung zu ihr. Ich denke, das war grundlegend für meine Entscheidung, sie als Protagonistin in den Film zu nehmen. Ich glaube nicht, dass sich zwischen uns etwas geändert hat, wir haben immer noch dieselbe enge Beziehung. Und natürlich haben wir durch die gemeinsame Arbeit an dem Film viele neue, wertvolle Erinnerungen gewonnen. Ihr gefällt der Film sehr gut 🙂
Obwohl es ein Dokumentarfilm ist, sind manche Szenen inszeniert (zum Beispiel die Party). Warum haben Sie sich dazu entschieden, diese Elemente in den Film zu integrieren?
Ich bin nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstehe, aber ich versuche sie so gut wie möglich zu beantworten. Meine Arbeit mit Filmen beinhaltet immer eine intensive Recherche zu den Protagonisten und den Schauplätzen, bevor ich mit den Dreharbeiten beginne. Auf diese Weise bin ich in der Lage, Orte oder Schauplätze, an denen etwas passieren soll, auszuwählen. Das heißt, dass ich den Protagonisten nie ohne Plan einfach „folge“. Ich glaube nicht, dass das eine schlechte Art der „Inszenierung“ ist. Ich denke es ist „Inszenierung“ insofern, als dass ich meine Protagonisten im Vorfeld so gut wie möglich kennenlerne, um ihnen Kulissen zu bieten, in denen sie sich so natürlich wie möglich verhalten können.
Manche der Szenen spielen offensichtlich mit fiktiven Arten des Geschichtenerzählens (wie die Tanzszene während des Zungenschneidens) – gibt es für Sie eine Grenze zwischen Dokumentarfilmen und Fiktion, auf die Sie bestehen? Wo liegt die Grenze?
Die Szene, in der die Kinder in der Halle der Fischerei tanzen, ist ein fiktives Element, welches ich zuerst in meinem Film „Good Girl” getestet habe. Ich wollte dieses „spielerische Element“ in einem Film für Kinder weiter erkunden. Ich finde es sehr spannend, verschiedene Elemente in meinen Filmen auszuprobieren. Alles, was die Geschichte lebendig werden lässt, ist gut. Natürlich ist es am Ende immer der Zuschauer, der entscheidet, ob es funktioniert, aber für mich habe ich immer das Ziel, neue Dinge für meine eigene künstlerische Entwicklung als Regisseurin und für neue Arten der Kommunikation mit dem Publikum zu erleben.
Sind Kinder in Nordnorwegen ihrer Meinung nach unabhängiger als beispielsweise in Oslo? Wenn ja, glauben Sie, dass es mit der Tradition des Zungenscheidens zusammenhängt?
Das ist ziemlich schwer zu beantworten, weil ich nicht glaube, dass es hierfür nur eine Antwort gibt. Aber ich glaube, wie schon vorher erwähnt, dass viele Kinder in Norwegen generell etwas verwöhnt sind. Ich denke daher, dass das Zungenschneiden für Kinder eine gute Möglichkeit ist, zu lernen, dass man für sein Geld arbeiten muss und dass man nichts umsonst bekommt.
In Deutschland gibt es kaum Dokumentationen für Kinder in Spielfilmlänge, die für das Kino produziert wurden. War es schwer, den Film zu finanzieren, und wie ist es Ihnen gelungen? Haben Sie den Erfolg des Films erwartet?
Zu finanziellen Details müssen Sie meine Produzentin fragen. Ich weiß aber, dass wir auch in Norwegen kaum Dokumentationen für Kinder in Spielfilmlänge haben. Tatsächlich ist „Tongue Cutters“ nur einer von insgesamt drei Dokumentarfilmen für Kinder, die jemals für das norwegische Kino produziert wurden. Für mich ist es eine große Ehre, dass ich zusammen mit meiner Produzentin Ingvil Giske von Medieoperatørene AS unter denjenigen bin, die das geschafft haben. Wir werden sicher auch noch mehr Dokumentarfilme für Kinder ins Kino bringen, denn unserer Erfahrung nach sehen Kinder sehr gerne Geschichten über das echte Leben anderer Kinder, und nicht nur Fiktion oder Cartoons.
Was haben Sie mit dem Geld gemacht, dass Sie damals beim Zungenschneiden verdient haben, und essen Sie gerne Kabeljauzunge?
Ich erinnere mich daran, dass ich ein Fahrrad und einen Kassettenspieler gekauft, und einen Großteil für meine Ausbildung angespart habe. Und ich muss gestehen, dass ich Kabeljauzunge nicht besonders gerne esse… Aber ich schneide sie gerne!
Von Jasmin Kreilos, Marlon Miketta und Finn Schenkin
Übersetzung: Jasmin Kreilos