Affekte, Selbsterkenntnis und Kritik – ein Text von Frédéric Jaeger zum Deutsch-Französischen Kritikeraustausch

Mittwoch, 21. März 2018
Frederic Jaeger

Im Rahmen eines Festivalaustauschs zwischen doxs! und dem Arras Film Festival besuchten deutsch-französische SchülerInnen zum dritten Mal das Ruhrgebiet. Es wurden ausgewählte Filme des Programms gesichtet und diskutiert — die zehn Jugendlichen hielten ihre Eindrücke in Form von Filmkritiken fest. Das Journal kann hier abgerufen werden.

Unterstützt wurden sie vom Journalisten Frédéric Jaeger, der seine Erfahrungen mit den jugendlichen FilmkritikerInnen zu Papier brachte. Wir sagen allen Beteiligten merci und wünschen eine gute Lektüre!


Ich hatte gehofft, sie wären irritiert, stattdessen wurden sie überwältigt. Über die Film(kritik)vermittlung mit deutschen und französischen Jugendlichen bei zwei Filmfestivals, in Arras und Duisburg.

Von Frédéric Jaeger *

Zuschauer haben nicht immer Recht, Schülerinnen und Schüler auch nicht. Und doch tue ich erstmal so als ob. Weil sich schnell genug viel zu viele “richtige”, gelernte und geglaubte Wahrheiten zwischen Film und Jugendliche schieben, wie Filme auszusehen haben, was professionell und was unprofessionell ist, was erlaubt und was verboten ist oder auch schlicht, was langweilig ist und was spannend. Wenn Schüler_innen bei einem Workshop aufgefordert werden, sich im Format der Kritik zu üben, dann kommt es darauf an, sich reflexhafte Bewertungen genau anzuschauen und sie kritisch zu nutzen. Besser also direkt von der Erfahrung ausgehen, sie in ihrer völlig legitimen Subjektivität anerkennen, nach außen kehren, was alles im Kopf produziert wird, inklusive Vorurteilen, so sie sich angesprochen fühlen. Dann ist es schon mal auf dem Tisch. Und es kann diskutiert werden. Das stimmt für Kritik insgesamt, erst recht aber, wenn man damit gerade erst beginnt.

Irritationen sind das, was am meisten dabei hilft, sich einem so alltäglichen wie fremden Medium Film mit Jugendlichen zu nähern. Ich hoffe und warte darauf, dass die Schüler_innen sich stoßen an den Filmen, sich ärgern, sich aufregen, provoziert werden, dass sie aus ihren Routinen hinausgeworfen werden. Obwohl natürlich auch die Provokation einer Routine folgen kann, wenn sie halbgar oder kalkuliert erscheint. Soweit muss es aber erstmal kommen. In Arras und Duisburg reagieren die Teilnehmer_innen des Workshops zunächst sehr verhalten, die ersten Filme bewerten sie fast nur im Modus des Mögens oder Nichtmögens, ohne Leidenschaft, aber offen und neugierig, vor allem auf die anderen. Egal wieviel die Einzelnen schon von Film verstehen, es steht der Austausch im Vordergrund. Die Deutschen haben französische Tandems und die meisten kennen sich noch kaum.

Irritationen herzustellen und zuzulassen, das ist Arbeit – und sie beginnt damit, einen Rahmen zu setzen, der nicht der Schulische ist. Wenn ich sage, der Workshop widmet sich dem “Format der Kritik”, und nicht einfach der Kritik, dann weil in den Verabredungen, die interkulturelle Filmworkshops mit sich bringen, für mich am Anfang immer eine Stunde Medienkompetenz liegt. Bevor es also daran geht, sich selbst besser zu verstehen, um sich für Bewegtbilder zu öffnen, die einem fremd sind, steht die Frage auf dem Programm, in welcher Form Kritik in journalistischen Medien auftaucht. Wie unperfekt das alles ist, wie fehlbar Kritiker sind und woran sie alles denken müssen, wenn es ihnen darauf ankommt, dass Internetseiten geklickt, Zeitungen verkauft und Radiosender eingeschaltet werden. Im Vordergrund stehen nicht aber die Hürden und äußeren Vorgaben an Texte, sondern das Vergnügen, das sie bereiten sollen, weil sie selbst kleine Kunstwerke sein können.

Nach ein-zwei Tagen des Kennenlernens, der Gewöhnung daran, dass ein Filmkritik-Workshop auch ein freier Raum ist, in dem, trotz der für Teenager manchmal mühevollen Konzentration, die Gelegenheit geboten wird, sich selbst auszudrücken, entwickelt sich langsam Selbstbewusstsein im Miteinander, die leiseren Stimmen werden lauter und die Lauteren hören besser zu. Bis dann, es kann nicht geplant werden, aber es passiert bei guter Filmauswahl wie hier dann doch regelmäßig, ein Film den Jugendlichen besonders nahe geht. Die Begegnung mit Regisseur und Protagonist beim Dokumentarfilm bestärkt noch das Empfundene, und auch wenn diesmal nicht die Irritation im Zentrum steht, schafft die emotionale Überwältigung (fast) dasselbe: Film als flexibles Medium zu erfahren, das im Akkord mit der eigenen Verfassung und Wahrnehmung ein Erlebnis ermöglicht, das in Worte zu fassen genauso schwer wie verlockend ist.

* Frédéric Jaeger hat Filmwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin studiert. Er ist Chefredakteur des Online-Kinomagazins critic.de. Von 2005 bis 2011 leitete er den deutsch-französischen Workshop „Ganz junge Kritik“ in Cannes im Rahmen der Semaine de la Critique, ein Projekt des Deutsch-Französischen Jugendwerks. Seit 2013 ist er geschäftsführender Vorstand des Verbands der deutschen Filmkritik.