„Das ist eine sehr, sehr starke Geschichte“, so das erste Feedback der doku.klasse zum Treatment von Joakim Demmer und Verena Kuri, „Die Tochter von …“. Eine junge Frau, deren Mutter von Menschenhändlern entführt wurde, als sie noch ein Kleinkind war. Und eine Großmutter, die in ihrem beharrlichen Kampf um Aufklärung kriminelle Netzwerke zu Fall brachte und zur Ikone der argentinischen Frauenrechtsbewegung wurde.
Wie in aller Welt soll sich so ein ausufernder Stoff in einem 30-Minüter unterbringen lassen? Und wie soll die 19-jährige Protagonistin Micaela, die „Tochter von“, darin genügend Raum bekommen?
Co-Regisseur Joakim Demmer begegnet den fragenden Gesichtern in der Gruppe mit Pragmatismus. Ja, klar, das ist schon alles „larger than life“. Aber die Vorgeschichte kann man im Film auch kurz fassen, meint er. Eine Möglichkeit: Micaela selbst könnte sie zu Beginn des Films erzählen, „direkt in die Kamera, 30 Sekunden, zack, fertig“. Dann bliebe Zeit, um sich den vielen anderen Ebenen zu widmen, die der Stoff in sich trägt. Die Vielschichtigkeit reizt Demmer: Dass es nicht nur um die dramatische Familiengeschichte geht, sondern auch um die argentinische Frauenbewegung. Vor allem aber interessieren ihn die existentiellen Fragen, die Micaela umtreiben: Wer bin ich? Und welche Rolle nehme ich in meinem Leben ein?
Raum für Ambivalenz
Hier liegt der dringlichste Vorbehalt der doku.klasse: Wenn Micaela doch darunter leidet, als „Die Tochter von …“ wahrgenommen zu werden, sollte man dann dieses Etikett im Titel verwenden? „Ist das nicht too much?“ Kommt drauf an, findet Demmer, der Titel kann ja durchaus auch ironisch gelesen werden. Vorrangig ist für ihn, dass Micaela die Möglichkeit bekommt, die Form des Films mitzugestalten, dass sie Gelegenheit hat, sich selbst zu inszenieren. „Nur so können wir den Film machen, oder: Nur so haben wir Lust darauf.“ Aus Micaelas Perspektive soll sichtbar werden, wie sie mit Rollen experimentiert, ihre eigene Haltung sucht – im Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach einem normalen Leben und dem Anspruch, das Erbe der Großmutter anzutreten und den Feminismus in Argentinien voranzutreiben.
Vom Hass der Männer gegen die Frauen erzählen
Der Film soll deutlich machen, dass es um strukturelle Gewalt gegen Frauen geht und nicht um einen einzelnen Kriminalfall. Die mafiösen Strukturen, mit denen die Familie es aufgenommen hat, sind in ihrem Alltag präsent, sie steht immer wieder unter Personenschutz, erhält Drohanrufe. Eine Idee ist, solche Telefonate für den Film mit Schauspielern nachzustellen, um die Atmosphäre der Gewalt zu vermitteln.
Die Frauenbewegung in Argentinien ist kein akademisches Projekt, betont Demmer, es geht um ganz konkrete Gesetzesänderungen. Susana, die Großmutter von Micaela, hat viele der Täter in den Knast gebracht, hat Gerechtigkeit erzwungen in einem Land, in dem das selten vorkommt. Auch die gesellschaftliche Erfahrung verschwundener Angehöriger ist in Argentinien ein großes Thema, hier steht Susanas Kampf in einer traurigen Tradition.
Der Film als Katalysator
Das Filmemachen begreift Demmer auch als eine Art Dienstleistung, um Prozesse und Entwicklungen anzustoßen. Den Schnittprozess beschreibt er wie die Geburt eines merkwürdigen Kindes, das irgendwann anfängt, sich selbst zu formen. „Das ist das Tolle an dieser Arbeit.“ Umso schmerzhafter aber, wenn man daran scheitert – „dann sitzt man da mit diesem hässlichen Kind“. Ob ihm für „Die Tochter von …“ eine bestimmte Form vorschwebt, um Jugendliche anzusprechen?
Nein, Demmer findet, der Film sollte für Erwachsene und junge Leute gleichermaßen funktionieren. Aber braucht es nicht doch schnelle Schnitte, kompakte Formate, hippe Musik, um eine junge Zielgruppe zu erreichen? Die doku.klasse ist sich uneins. „Ich finde es sogar gefährlich, das junge Publikum darauf festzuschreiben“, widerspricht eine Teilnehmerin. „Immerhin sitzen wir ja auch alle hier.“