Die Referenz erweisen (4): Der Dokumentarist und Autor Herbert Fell im Gespräch mit der Filmemacherin Susanne Mi-Son Quester.
„Und was das Wirklichkeitsversprechen des Dokumentarfilms betrifft, so bin ich der Meinung, dass der Dokumentarfilm sich nicht nur um die Realität, sondern genauso um die Wünsche und Träume der Menschen kümmern muss.“
Herbert Fell: Jean-Luc Godard sagte zu den Dokumentarfilmen Richard Leacocks, seine sogenannten Cinéma-Vérité-Filme seien auch deshalb so schlecht, weil Leacock nicht wisse, dass er auch als Dokumentarfilmer inszeniere.
Susanne Mi-Son Quester: Sicherlich gehört das Inszenieren zum Dokumentarfilm dazu. Wozu sonst bräuchte es einen Regisseur oder eine Regisseurin? Natürlich inszeniere ich, sonst hätte ich beim Dreh ja gar nichts zu tun, da könnte ich auch zu Hause bleiben.
In eurem neuen Film „Chao’s Transition“, in dem es um einen jungen Menschen geht, der sich zur Frau umwandeln lassen will, steht Chao nach einem Drittel des Films vorm Spiegel, betrachtet und schminkt sich, da kommt plötzlich eine animierte Libelle ins reale Bild hereingeflogen, die es auch schafft, Chao in eine animierte Figur zu verwandeln. Das ist ungewöhnlich für einen Dokumentarfilm.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir mit Animationen im Dokumentarfilm arbeiten. Schon in unserem letzten Film „Warum ich hier bin“, den ich auch zusammen mit Mieko Azuma gemacht habe, gab es animierte Sequenzen. In dem Film erzählen die Personen auch von dem, was vor ihrer Flucht nach Deutschland passiert ist, sie berichten von Vergangenem. Da haben wir die Animation als Möglichkeit genutzt, um von dieser Vergangenheit zu erzählen. Dabei haben wir festgestellt, dass man mithilfe der Animation auf komprimierte Weise relativ komplizierte Sachen darstellen kann. Man kann gut Stimmungen erzeugen und anschaulich von Gefühlen erzählen. Diese Erfahrung haben wir aus dem letzten Film mitgenommen. Bei Chao’s Transition dient die Animation aber nicht dazu, Vergangenes lebendig werden zu lassen, sondern eher Vorstellungen und Phantasien unserer Hauptfigur. Die Animations-sequenzen stellen Dinge dar, die man real nicht darstellen kann. Sie visualisieren Dinge, die nicht unmittelbar sichtbar sind.
Im Gegensatz zum Spielfilm, bei dem der bezahlte Schauspieler ein fremdes Leben darstellt, lassen uns die Personen im Dokumentarfilm, die keine Filmprofis sind, an ihrem realen Leben teilnehmen. Aber will der Mensch, der vor der Kamera steht, nicht oft etwas anderes von sich zeigen als derjenige, der hinter der Kamera steht? Ich kenne aus meiner Arbeit auch Situationen, in denen man die Menschen vor der Kamera schützen muss, weil sie Sachen vor der Kamera erzählen wollen, mit denen sie sich selbst schaden können.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschen, vor allem die jungen Menschen, viel medienbewusster geworden sind. Wenn du heute jemanden fragst, ob er Lust hat, bei dir in einem Film mitzumachen, dann hat er eine recht genaue Vorstellung davon, was das bedeutet. Das galt besonders für Chao, die sehr aktiv auf Instagram ist und jeden Tag an die zehn Fotos von sich postet. Für sie war das Auftauchen eines Filmteams überhaupt nichts Ungewöhnliches oder Fremdes. Wir haben von Anfang an gespürt, dass Chao zweifelsfrei bestimmt, was sie uns von sich zeigt und was sie uns nicht zeigt. Und uns war von Anfang klar, dass wir uns darauf einlassen. Denn der ganze Film hängt an ihrer Person, es ist ein Porträt, für das sie sich und ihre Geschichte zur Verfügung stellt. Da fand ich als Filmemacherin es in Ordnung, dass sie so etwas wie eine Vorauswahl traf. Es gab aber auch nie den Moment, wo wir uns sagten: Ach, das wäre jetzt ungemein interessant und das dürfen wir nicht filmen. Wir hatten da keine Konflikte.
Es gibt dieses berühmte Foto von 9/11, wo junge Leute bei strahlendem Sonnenschein entspannt am Ufer des East River beieinander sitzen und plaudern, während am gegen-überliegender Ufer die Twin Towers brennen. Die jungen Leute wehrten sich gegen dieses Foto. Sie sagten, das Foto lügt, das sind wir nicht. Das Foto sei ein Schnappschuss. Es zeigt nicht, was vor und nach dem Schnappschuss passiert ist. Denn wir haben sehr wohl auf die brennenden Türme in Manhattan reagiert. Thomas Höpker, der Fotograf, hatte das Foto ein paar Jahre lang zurückgehalten. Er meinte, es fühle sich falsch an. Dann veröffentlichte er es doch. Es fühlte sich nach ein paar Jahren offenbar nicht mehr falsch an. Vielleicht war mit der Zeit aus dem Schnappschuss etwas Allgemeingültiges geworden, ein geradezu surreal wirkendes Sinnbild für menschliche Gleichgültigkeit.
Ich denke, ich hätte das Bild ohne das Einverständnis der Gezeigten nicht veröffentlicht. Es gibt heutzutage ja auch andere Möglichkeiten, man hätte beispielsweise ihre Gesichter digital verändern können. Auch vermeintliche Lügen können die Wahrheit sagen und umgekehrt können Dokumente auch lügen. Es ist mir wichtig, dass es da einen Pakt, einen Pakt des Vertrauens, zwischen dem Filmemacher und seinen Protagonisten gibt, die eben keine professionellen Schauspieler sind, die eine beliebige Figur darstellen, sondern die mit ihrem Gesicht, mit ihrer ganzen Person für dich – sich spielen. Ja, sie spielen, sie spielen sich – für dich und deine Kamera. Alles andere sind Blicke durchs Schlüsselloch, Blicke eines Voyeurs.
Wieder etwas anderes ist es, wenn du wie zum Beispiel Claude Lanzmann einen Film mit den Verantwortlichen der Shoah machst. Da gibt es zwischen Interviewer und Interviewten keinen Pakt des Vertrauens, den darf es da nicht geben.
In diesem Fall ist das sicherlich richtig. Ich ziehe es jedoch vor, mit Menschen zu arbeiten, die mir sympathisch sind und die ich mag. Ich möchte noch einmal auf die Godard/Leacock-Problematik vom Anfang des Gespräches zurückkommen: Im Grunde wirft Godard Leacock vor, dass er sich nicht bewusst ist, mit welchen Mitteln er als Dokumentarfilmregisseur spielt. Ich denke, dass sich diese Frage so heute nicht mehr stellt. Die Welt ist viel medialer, der Umgang mit den Medien viel bewusster geworden. Und was das Wirklichkeitsversprechen des Dokumentarfilms betrifft, so bin ich der Meinung, dass der Dokumentarfilm sich nicht nur um die Realität, sondern genauso um die Wünsche und Träume der Menschen kümmern muss.
Dieses Gespräch zwischen Herbert Fell und Susanne Mi-Son Quester fand am 16. September 2021 in München statt.
Susanne Mi-Son Quester (*1979 in Starnberg) studierte nach einer Ausbildung zur Cellistin zunächst Japanologie und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, dann Dokumentarfilmregie an der HFF München und an der Korean National University of Arts in Seoul, Südkorea. Seit 2006 ist sie als freie Autorin und Regisseurin sowie als Produzentin für Dokumentarfilme und Radiofeatures tätig. 2008/2009 nahm sie an der Kinder-Dokumentarfilminitiative „dokyou“ teil, in deren Rahmen der Kurzfilm „Eiki“ (2010) entstand. 2011 bis 2015 war sie Mitglied der Auswahlkommission und der ARTE-Jury bei der Duisburger Filmwoche. |
Herbert Fell Autor, Übersetzer und Filmemacher Dokumentarfilme seit 1986. U.a.: Kaffee, der schwebt (1986) / 3 zu 4, 7 zu 8 Es wird ein kleiner Schritt gemacht (1994) / Der Champagner Springbrunnen (1996) / Völklingen zum Beispiel (1999) / Streitlust (2001) / Die Geworfenheit der Steine (2018). |