Eine Filmkritik von Bengisu Yüksel zu Kristina Konrads Dokumentarfilm „Diego“ – entstanden in der 3sat-Reihe “Ab 18!”
Im gleichnamigen Dokumentarfilm begleiten Filmemacherin Kristina Konrad und ihr Team den kurz vor seinen Abschlussprüfungen an der renommierten Oxford-Universität stehenden Diego. Neben seinem enormen studiumsbedingten Arbeitspensum sieht man, wie Diego nebenbei noch eine App entwickelt, sich mit Freunden trifft, Sport und Musik macht. Schauplätze sind meist sein Studentenzimmer und Elternhaus, oder die jeweils passende Umgebung: eine englische Innenstadt, die Universität, das Fitnessstudio und Nachtclubs sowie das elterliche Esszimmer und winterliche Landschaften.
Der Film nimmt den Zuschauer langsam und vorsichtig in Diegos Leben mit. Eine ruhige Kameraführung und lange unkommentierte Sequenzen, in denen der Blick einfach nur dem Weg des Protagonisten folgt, tragen zu diesem Eindruck bei. Für das Publikum entsteht dadurch viel Raum zur eigenen Interpretation.
Auffällig ist die Bipolarität im Leben des Protagonisten: Alltag auf dem Campus vs. Wohnen im Elternhaus, Familie vs. Freunde, mögliche Zukunft in der freien Wirtschaft vs. Karriere in der Forschung. Programmatisch zeigen manche Momente, wie zwiegespalten Diego ist: Beispielsweise wenn er sich mit seinem Vater über sein Interesse an Börsen-entwicklungen und seine Zukunftspläne berät; oder von seinem Traum spricht, mit einer guten Idee für eine App das schnelle Geld zu machen, sich danach ein Eis kauft und seinem Vater das Wechselgeld zurückgibt.
Man ist als Zuschauer meist verblüfft über diesen jungen Mann, dessen Interessen so vielfältig und teilweise nicht ganz zusammenpassend scheinen. Hat man sich gerade an ein weiteres Mosaiksteinchen gewöhnt, packt Diego plötzlich eine E-Gitarre aus und spielt mit dem Vater am Klavier eine Version des Ave Marias, die man nicht wirklich ins Spektrum zwischen grausig und schön einordnen kann. Aber vielleicht macht das gerade ihren Charme aus.
Für den Betrachter des Films ist die Anwesenheit der Kamera offensichtlich: Wenn der Protagonist einen Freund am Telefon mit der Begründung abwimmelt, dass er gerade nicht reden könne, weil die Kamera dabei sei oder wenn er nach einem Aufenthalt bei seiner Familie im Zug sitzt und für ein paar (ein wenig zu gewollt tiefsinnig wirkende) Momente nachdenklich in die Kamera guckt. In der Regel tun solche Momente der Qualität des Films keinen Abbruch, sondern verstärken seine Authentizität. Allerdings wirkt das Bestreben einer (umfassenden) Portraitierung des Protagonisten an manchen Stellen leider hölzern. Nach fast 40 Minuten wird noch versucht, dem bisher größtenteils als Coverboy (durch sich selbst oder die Filmemacherin?) inszenierten Diego eine softe Seite zu geben, was die Stimmung langsam aber sicher ins Überdrüssige kippen lässt.
Insgesamt überzeugt die Produktion durch ihren ruhigen und leisen Ton, ihre liebevollen Details (beispielsweise der runtergedrehte Ton in der Szene, die die Hauptperson beim Feiern zeigt) sowie mit ihren schlicht schön zu nennenden Bilder. Von Zeit zu Zeit vermisst man einen wenigstens blassroten Faden – allerdings kommt der Film auch leidlich ohne aus.
Es bleibt noch die Frage nach dem Mehrwert dieses Dokumentarfilms, seiner Aussage. Bei der nüchternen Herangehensweise der Filmemacherin, ist diese zu finden, schwer. Wird auf den Leistungsdruck, Lebensumstände und Hintergründe einer Generation verwiesen, die schon bald die Elite der Gesellschaft bilden wird? Oder ist Diego nur einer von vielen, gar zu vergleichen mit denen, die nicht auf Eliteunis gehen, dreisprachig aufgewachsen sind und eine aussichtsreiche Zukunft haben?
Ein paar Fragen bleiben offen, die „Diego“ nicht beantworten kann oder will.