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Wie geht Dokumentarfilm?

Das Bundes.Festival.Film. in Kooperation mit doxs! ist vorbei, aber dank unserer Protokollantin Maxi Braun gibt es hier den Bericht zum Dokumentarfilm-Panel mit unseren Gäst*innen Britta Wandaogo, Julia Milz, Mala Reinhardt und Sven Ilgner. Viel Spaß beim Lesen und Revue passieren lassen!

Protokoll zum Panel im Rahmen des Bundes.Festival.Film am 9. Juni 2024 in Duisburg
11-12:20 Uhr

Das von Tanja Tlatlik (Leiterin doxs!) moderierte Panel war mit vier Dokumentarfilmenthusiast*innen besetzt, die für unterschiedliche Herangehensweisen an den künstlerischen Dokumentarfilm stehen, was schon in der ersten lockeren Vorstellungsrunde deutlich wurde.


Sven Ilgners Berufsweg führte beispielweise über verschiedene Stationen. Als 23-Jähriger wurde er für seinen dokumentarischen Debütfilm Elchfallen mit dem Bundesvideopreis – wie die Auszeichnung beim Bundes.Festival.Film 2002 noch hieß – gewürdigt,  mit dem er sich erfolgreich für die KHM bewarb. Das habe sein Leben verändert. Bis dahin sei Film für ihn immer gleichbedeutend mit Indiana Jones gewesen. Beim Dreh und der Zeit an der KHM habe er den Dokumentarfilm und dessen künstlerische Aspekte aber kennen und lieben gelernt. Später war er u.a. als Kurator, Leiter des Filmbüro NW und von 2012 bis 2016 als Förderreferent der Film- und Medienstiftung NRW tätig und konnte so auf dem Panel Einblicke in die Entscheidungsprozesse von Fördergremien geben.

Auch Regisseurin Mala Reinhardt kam erst über Umwege zum Dokumentarfilm. Als Jugendliche mit Migrationsgeschichte habe sie Dokumentarfilme immer für etwas Elitäres gehalten, zu dem sie keinen Zugang hatte und wo es für sie keine Vorbilder gab. Sie studierte zunächst Ethnologie in Köln, Neu-Delhi und Kampala. Selbst Filme zu realisieren war undenkbar, bis sie es 2015 in Indien einfach tat. Sie porträtierte eine Gruppe Frauen, die Säureangriffe überlebt und sich danach organisiert und solidarisiert hatten. Später studierte sie Regie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam und konzentrierte sich in ihrer filmischen Arbeit auf unerzählte Geschichten aus migrantischer und feministischer Sicht. Ihr Film Der zweite Anschlag dokumentiert die bisher wenig beachtete Perspektive der Betroffenen rassistischer Gewalt in Deutschland seit den 1990er Jahren. Reinhardt betonte – besonders im Hinblick auf die Arbeit mit Protagonist*innen, die Gewalt erlebt haben – ihre besondere Verantwortung als Dokumentarfilmerin. Sie sei sich bei der Arbeit stets bewusst gewesen, dass sie alte Wunden aufreißen und eine Retraumatisierung nicht psychologisch hätte auffangen können und stand so exemplarisch für einen sensiblen Umgang mit Protagonist*innen.

Ein vertrauensvoller Umgang mit den Menschen vor der Kamera ist auch Regisseurin Julia Milz wichtig. Sie studierte Regie an der Deutschen Film und Fernsehakademie Berlin (Dffb), arbeitet als Editorin (zuletzt Geschlechterkampf – Das Ende des Patriarchats) und ist seit 2023 beim Projekt „spots“ in der Film- und Medienbildung tätig, wo sie gemeinsam mit Jugendlichen Kurzfilme erarbeitet und Impulse aus der Anti-Diskriminierungsarbeit einfließen lässt. In ihren Filmen nimmt sie gerne Bezug auf ihre Rolle als Filmemacherin, zuerst interessiere sich aber für Phänomene. In einem zweiten Schritt suche und finde sie dann Menschen, die sie faszinieren und Aspekte und Themen aufbringen, die bis dato unangenehm und unausgesprochen seien. Immer sei sie bisher auch das Risiko eingegangen, den Gefilmten ihre Schnittfassungen vorab zu zeigen – auch auf die Gefahr hin, dass diese ihre Einwilligung zurückziehen könnten.

Für einen mutig ins Getümmel stürmenden und unverkopften Zugang zum dokumentarischen Arbeiten steht Regisseurin Britta Wandaogo. Sie studierte an der KHM und begleitete für ihr Dokumentarfilmdebüt Den Affen töten (1994) Drogenabhängige in Dortmund. In Nichts für die Ewigkeit (2011) porträtierte sie ihren Bruder, der selbst heroinabhängig war und thematisierte in Die Krokodile der Familie Wandaogo und Krokodile ohne Sattel die Beziehung zu ihrem afrikanischen Mann und das Leben in Burkina Faso. Seit 2010 ist sie Professorin für dokumentarische, journalistische und künstlerische Filmformate im Fachbereich Design (Peter Behrens School of Arts) an der Hochschule Düsseldorf. Sie komme ursprünglich vom Fotojournalismus, in Bildern zu denken sei ihr daher immer leicht gefallen und auf (finanzielle) Sicherheit habe sie nie besonders viel Wert gelegt.

Auch das Publikum, darunter viele junge Filmschaffende, nutzen die Gelegenheit, Fragen an die Panelist*innen zu stellen, wie die nach der richtigen Formulierung für Förderanträge in Bezug auf Dokumentarfilme.
Ilgner konnte hier aus Sicht der Fördergremien viele praktische Tipps geben. Förderer wüssten, dass Dokumentarfilme anders funktionierten als Spielfilme und im Verlauf der Dreharbeiten viel Unvorhergesehens passieren könne. Wichtig sei, dass aus dem Förderantrag die eigene Neugier an einem Thema deutlich werde. Für einen Autorenfilm sei es ok, wenn die Idee noch unstrukturiert sei, aber ein Thema, mögliche Protagonist*innen und die visuelle Form müssten herauslesbar sein. Er riet außerdem dazu, sich nicht entmutigen zu lassen, Gleichgesinnte zu suchen und auch für Kritik von außen offen zu bleiben. Reinhardt hielt es für wichtig, eine plausible Idee zu präsentieren, der man gut folgen könne. Wandaogo erinnerte in diesem Kontext an die Unvorhersehbarkeit des dokumentarischen Prozesses: Es sei gut, vorher etwas aufzuschreiben, aber wichtig, später ganz woanders zu landen. Generell, da waren sich die Panelist*innen einig, helfe es, sich nicht zu abhängig von Förderentscheiden zu machen.

Auf die Frage nach dem Nutzen von einem Filmhochschulstudium fielen die Antworten ambivalent aus. Einerseits finde und bilde man dort Netzwerke, knüpfe Kontakte und lerne, wie die Branche funktioniere. Reinhardt und Milz berichteten, dass sie erst auf der Filmschule gelernt hätten, wie die Branche funktioniert, was ein Pitch oder ein Treatment sei. Außerdem könne teilweise die Technik kostenlos genutzt werden. Allerdings scheint sich hier in den letzten 30 Jahren viel verändert zu haben. Während Wandaogo sich an ihre nächtliche Montage an freien AVID-Schnittplätzen der KHM und ihr damaliges Gefühl erinnerte, nie wieder so frei werde arbeiten zu können, war Reinhardt von den Möglichkeiten in den 2010er Jahren in Potsdam eher desillusioniert. Das hochwertige Equipment sei eben nicht für alle Studierenden jeder Fachrichtung frei verfügbar – sie als Regieperson habe beispielsweise keine Kamera ausleihen können – und das bürokratische Prozedere für den Dreh eigenen Materials oft kompliziert. Außerdem fördere die Filmhochschule auch den Konkurrenzkampf, da die Ressourcen nunmal begrenzt seien. Zusätzlich wusste Wandaogo zu berichten, dass filmische und auch künstlerische Studiengänge mittlerweile sehr verschult seien. Ilgner befand, es gäbe zwei Varianten, Film zu lernen: Filme zu machen oder welche zu gucken. Wandaogo widersprach, sie habe bewusst wenig Filme geschaut, um sich einen offenen, unvoreingenommenen Blick zu bewahren und nicht zu kopieren.

Neben weiteren Exkursen in ästhetische Trends im aktuellen Dokumentarfilm (jede Zeit hat ihre Bilder; neue Technik verändert die Bildsprache; die Fülle der Streaminginhalte habe zu einer ästhetischen Gleichschaltung geführt) wollte das Publikum gegen Ende noch konkreter und aus erster Hand mehr über die Lebensrealität der anwesenden Dokumentarfilmschaffenden erfahren. Wenn sich der filmische Prozess über Jahre hinziehe, der Ausgang ungewiss sei, Förderung eher die Ausnahme – wie überlebt man dann?

Julia Milz gab ehrlich zu, dass Förderanträge zu schreiben und Pitches zu präsentieren viel kreative Energie absauge und riet dazu, unabhängig von Förderungen einfach erstmal loszuziehen, zu beobachten und ein Filmtagebuch zu führen. Ilgner gab zu, zwischendurch „eingeknickt“ zu sein und unterschiedliche Jobs angenommen zu haben,  um die Miete zahlen zu können. Reinhardt erzählte davon, dass es üblich sei, parallel an mehreren Projekten zu arbeiten, von denen letztlich auch nicht alle immer zustande kämen. Dokumentarfilme zu drehen sei nunmal eine präkere Angelegenheit, die viel unbezahlte Arbeit verlange. Viele ihrer ehemaligen Kommiliton*innen würden von der Arbeit in der Filmbranche leben, müssten aber auch viele Auftragsarbeiten annehmen. Nur vom Dokumentarfilm zu leben sei insbesondere in Deutschland kaum möglich.

Dieser Erkenntnis zum Trotz bereute keine*r der Panelist*innen den eingeschlagenen Berufsweg. Sie ermutigten die Filmbegeisterten im Publikum, einfach rauszugehen und sich auszuprobieren. Die Technik und das Equipment seien dabei meist nicht entscheidend. Viel wichtiger sei Neugierde , Herzblut und für Thema und Film zu brennen. Ohne diese Leidenschaft gehe es im Dokumentarfilm nicht.

Fotos: Tobias Lelgemann