Eine Filmkritik von Delia West zu Bettina Timms Dokumentarfilm „Jocko 23“ – entstanden in der 3sat-Reihe “Ab 18!“
Der Titel ist unspektakulär. Schnell wird deutlich, dass es in diesem Film nicht um Diskotheken, Partys und Sauferei geht, sondern um einen jungen Mann, der im Osten Deutschlands in einer verlassenen Stadt nahe der polnischen Grenze lebt.
Jocko ist dort aufgewachsen und hilft seinem Adoptivvater, wie wir später erfahren, in seiner Firma, die sich mit der Reparatur von elektronischen Geräten beschäftigt. Er erzählt, dass er oft mit Kuchen anstatt Geld versorgt wird, ihn das aber nicht sonderlich stört, da er gerne etwas für seine im Dorf ansässigen Mitbürger erledigt. Sein Vater ist nach dem Tod seiner Frau vor drei Jahren nicht ganz auf der Höhe. Die Arbeit des Reparaturservices bleibt an Jocko hängen. Der Protagonist ist 23 Jahre alt und arbeitet an seinem Muskelaufbau: mit einer “selfmade“- Flaschenzugapparatur, an der pro Seite drei mit Sand gefüllte Flaschen hängen.
Der Film begleitet Jocko während seiner Tätigkeit als Handwerker, bietet aber auch einen tiefen Einblick in die Gedanken und Sorgen des jungen Mannes. Er will einerseits aus diesem verlassenen Ort entkommen, nimmt sich auf der anderen Seite aber auch der Verantwortung an, die durch die Einschränkung seines Vaters und den Reparaturservice entsteht. Denn wer soll für seinen Vater sorgen, wenn er nicht mehr da ist? Es ist bemerkenswert, wie viele Gedanken sich ein doch noch junger Erwachsener um sein Umfeld macht, wo heutzutage so laut über die fehlende Initiative und das geringe Engagement der Jugend geklagt wird. Der Film zeigt hier die andere Seite und unternimmt vielleicht auch den Versuch, bei Jugendlichen eine Botschaft zu hinterlassen. Was lassen wir zurück, wenn wir uns entscheiden, für das Studium oder die Ausbildung umzuziehen? Eine Grundsatzfrage, die uns ein Leben lang begleitet.
Durch die formalen Aspekte des Films kommt eine bedrückende Melancholie ins Spiel, die durch lange Kameraeinstellungen und weit in die Ferne reichende Motive geprägt wird. Diese Stimmung passt zum Ort, der, ähnlich wie die Bilder, sehr ruhig und ausgeglichen wirkt. Mir gefällt, dass die Bilder größtenteils für sich sprechen und nicht noch durch Off-Kommentare unnötig erläutert werden. Der Einsatz von Musik ist perfekt dosiert. Ich habe weder das Gefühl, es ist zu viel, noch frage ich mich nach dem Film, wieso nicht mehr Musik eingesetzt wurde.
Ein immer wiederkehrendes Motiv ist Jockos Fahrrad. Es scheint, als könnte er auf seinem Rad alles und jeden erreichen. Dies spiegelt für mich die Idee des Ausreißens aus der Provinz wider und verdeutlicht zum anderen die Welt, in der Jocko lebt. Andere in seinem Alter vergnügen sich mit ihrem eigenen Auto auf den Landstraßen und er radelt durch den Osten, um meist älteren Menschen oder Institutionen alte „Röhrenfernseher“ für wenig Geld zu reparieren. Im Film wird für mich eine Sehnsucht nach diesem Ausbrechen miterzählt, einmal in der virtuellen Welt, in der Jocko selber an der Konsole zockt, oder ein weiteres Mal in der realen Welt, wenn man Autos über die Landstraße jagen sieht.
Doch Jocko steht nicht völlig abseits der Realität. Eigentlich ist er ganz normal und verspürt den Wunsch nach Zuneigung. Er ist eitel und trainiert: Einerseits um auf der Straße Respekt zu bekommen, aber man merkt auch, dass er gerne eine Freundin hätte. Seiner Meinung nach würde es aber kein Mädchen bei ihm Zuhause aushalten. In der kleinen alten Wohnung gäbe es keine „Privatsphäre“ und sein Vater lebe ebenfalls in der Wohnung.
Der Verdacht kommt auf, dass der Vater ein Alkoholproblem hat und mit dem Tod der Mutter in ein Tief geraten ist. Womöglich der Grund, weswegen sich Jocko so sehr um dessen Wohl sorgt. Er spricht relativ offen darüber, dass er bei seinen leiblichen Eltern wahrscheinlich ein besseres Leben gehabt hätte. Umso schöner zu sehen, das Jocko sich „trotzdem“ um seinen Vater und das kleine Geschäft kümmert. Er weiß, dass er ihn aufgenommen und ein Leben ohne Heim ermöglicht hat.
Auf eine Sache möchte ich noch eingehen: Die Bilder des Films wirken insgesamt sehr gestellt. Bevor Jocko ins Bild kommt, steht die Kamera genau bereit und fängt die Geschehnisse ein. Es gibt viele Szenen auf dem Rad, wo er ins Bild und aus dem Bild heraus fährt. Oder die Sequenz im Schwimmbad, in der Jocko durch die zu sehende Tür hereinkommt, zum rechten Bildrand herausläuft und anschließend das Wasser aus dem Wasserfall links im Bild sprudelt. Eine perfekt komponierte Szene, die bei mir ein befremdliches Gefühl auslöst. Man hat als Zuschauer nicht den Eindruck, Teil seines Lebens zu sein, sondern fungiert als Beobachter und entwickelt – die Interviews ausgenommen – ein distanziertes Verhältnis zum Protagonisten.
Das Thema des Films ist durchaus interessant und ansprechend. Allerdings habe ich das Gefühl, dass das Leben auf dem Land oder in der Provinz mittlerweile ziemlich zerkaut ist, deswegen finde ich gut, dass das in diesem dokumentarischen Format nicht im Vordergrund steht. Jockos Leben, seine Sorgen und Ängste, seine Sehnsüchte und Wünsche sind im Fokus. Der Film erzählt seine Geschichte inhaltlich authentisch, auf der visuellen Ebene für meinen Geschmack leider zu komponiert.
Die letzte Einstellung, in der Jocko von vorne auf dem Rad zu sehen ist, anders als bei den üblichen Bildern, lässt Spielraum für das offene Ende und man fragt sich: Wann wird er in die Großstadt gehen oder geht er überhaupt? Bettina Timm bietet dem Zuschauer die Möglichkeit, eigene Gedanken beim Schauen mit einzubeziehen – und erzählt nicht zuletzt deshalb die Geschichte von Jocko auf interessante Art und Weise.