Am 13. April 2018 wird in Marl die 3sat-Auftragsproduktion „Du warst mein Leben“ (DE 2017) von Rosa Hannah Ziegler mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Wir gratulieren der doku.klasse-Stipendiatin herzlich! Und empfehlen die Filmkritik von unserem ehemaligen Praktikanten Marlon sowie das Radiofeature zum Film: „Was sagt mir Eleonore?“, nachzuhören beim Deutschlandfunk Kultur.
Von Marlon Miketta
Sonnenbrille, Sand und Meer: an einem Strand begegnet der Zuschauer den beiden Protagonistinnen zum ersten Mal. Aber bevor echte Urlaubsgefühle aufkommen können, wechselt das Setting zu einem Balkon einer Ferienwohnung, wo sich eine Mutter und ihre Tochter unterhalten. Die Umgebung erinnert an einen unpersönlichen Wohnblock, kaltes Wetter und ein dunkler Himmel unterstreichen, ebenso wie ein Tisch, der die beiden voneinander trennt, die Emotionen, die bei einem Gespräch aus der Vergangenheit geholt werden.
„Wir hatten keine Freiheit“ – so beschreibt Eleonore ihrer Tochter Yasmin ihre Kindheit. Ihr Zimmer war eine „Abstellkammer“, Feiertage waren „der reinste Horror“. Die Zeit war von Misshandlungen durch ihren Vater geprägt. Mit fast 31 Jahren fing Eleonore an, mit Drogen aus der Realität zu flüchten. Ihrer Tochter mangelte es dadurch nicht nur an materiellen Dingen, sondern auch an sozialen Kontakten. Sie wirft ihrer Mutter vor, nicht für sie da gewesen zu sein. „Weil ich damals keine Freunde hatte, habe ich immer Gummitwist mit Mülltonnen gespielt.“
„Eine emotionale Vertrautheit wird spürbar“
Mitten im Gespräch flüchtet Eleonore in die Wohnung. Spätestens hier fällt die Art des Filmens auf. Denn die auf dem Balkon aufgestellte, statische Kamera wird geradezu mechanisch auf Eleonores Fluchtort geschwenkt. Äußerst distanziert dokumentiert die Kamera die Auseinandersetzung zwischen den beiden.
Nach dem eskalierten Streit überrascht der Film mit einem harten Schnitt: Mutter und Tochter lehnen eng aneinander, Kopf an Kopf. Das überraschende Bild visualisiert die dennoch vorhandene Nähe, eine emotionale Vertrautheit wird spürbar.
Nach der Pause sitzen sich die beiden wieder gegenüber, diesmal in der Wohnung. Eleonore unternimmt den Versuch einer Versöhnung: „Wie wäre es, wenn wir mal wieder alle zusammen Weihnachten feiern?“. Doch Yasmin lehnt das Angebot ab, sie sieht vorerst keine gemeinsame Zukunft mit ihrer Mutter.
Lediglich Hintergrundgeräusche, sowie die Stimmen der Protagonistinnen sind im O-Ton zu hören und die Kamera nimmt den ganzen Film über eine beobachtende Rolle ein, um eine möglichst neutrale Haltung zu gewährleisten. Und es funktioniert: einerseits sympathisiert der Zuschauer mit Yasmin, da Eleonore deutlich weniger Screentime aufweist, andererseits mit ihrer Mutter, da ihre Tochter auf eine durchaus dominante Art und Weise Vorwürfe kommuniziert.
Auf dem Balkon sind die Protagonistinnen von Kopf bis Fuß zu sehen. Da die Kamera aber auf Eleonores Seite positioniert ist, ist lediglich das Gesicht der Tochter komplett im Bild. Visuell wird die Dominanz Yasmins im Gespräch unterstrichen. Innerhalb der Wohnung wurden meist halbnahe Einstellungen verwendet, um noch mehr Emotionen durch die Gestik erkennbar zu machen. Auch hier wird primär Yasmin gefilmt.
„Es wird deutlich: Ein Gespräch allein kann nicht für eine Versöhnung sorgen.“
Der Schnittrhythmus gibt ein langsames Tempo vor, meist werden Plansequenzen – Szenen oder Sequenzen, die weder Schnitte noch Kameraperspektivwechsel aufweisen – eingesetzt. Diese Ästhetik unterstreicht die realistische Erzählweise, aber auch die Bedeutung der Zeit für den Prozess der Verarbeitung. Die Sprechpausen der beiden werden meist nicht geschnitten, um den Zuschauer zum Nachdenken anzuregen und zu verdeutlichen, wie anstrengend es für die Protagonistinnen ist, über ihre Vergangenheit zu reden.
Am Ende des Films sitzen Mutter und Tochter wieder, von einem Tisch getrennt, auf dem Balkon. Es ist Abend, kalt und dunkel, sie schweigen sich an. Es wird deutlich: Ein Gespräch allein kann nicht für eine Versöhnung sorgen.
Thematisch erinnert „Du warst mein Leben“ an das Mittagsprogramm im privaten Fernsehen. Aber in diesem Film werden nicht nur reale Biografien erzählt, sondern die Regisseurin legt Wert auf die Ästhetik und das Zusammenspiel zwischen Inhalt und Bild. Ein Kompliment kann nicht nur an Rosa Hannah Ziegler, sondern auch an die Protagonistinnen ausgesprochen werden: Derart persönliche Erfahrungen vor der Kamera preiszugeben, erfordert viel Mut. Das Endergebnis ist ein zwar bedrückender, aber auch sehr gelungener und sehenswerter Dokumentarfilm.