Die doku.klasse öffnete beim doxs!-Festival wieder die Türen ihres Ateliers.
Mit Freier Mensch von Andreas Hartmann wurde zum dritten Mal ein Film gezeigt, den die Klasse bereits im Projektstatus kennengelernt hatte. Es ist das eindrückliche Porträt eines jungen japanischen Aussteigers – mit einer unerwarteten Wendung.
Intensiv und fundiert. Wenn die FilmemacherInnen über ihre Erfahrungen mit der doku.klasse sprechen, sparen sich nicht an Lob über die gute Vorbereitung der TeilnehmerInnen und ihr großes Engagement. Das Ganze, zeigte sich Florian Baron, einer der diesjährigen RegisseurInnen, beeindruckt, habe ein „analytisches Level“, das er sonst nur von Leuten kenne, die sich professionell mit Film beschäftigten. „Die Klasse ist extrem wach.“
Im dritten Jahr hat die doku.klasse ihr Profil weiter
geschärft. Die TeilnehmerInnen wissen mittlerweile ziemlich genau, wo die möglichen Knackpunkte eines Treatments oder einer Rohschnittfassung liegen, und erkennen die Konturen eines Films bereits im Projektstatus. Bei der Abschlusspräsentation am 10. November im Duisburger Filmforum konnten sie ihre Einschätzungen und Erwartungen mit dem fertigen Ergebnis abgleichen: Andreas Hartmann, der letztes Jahr mit der Klasse sein Treatment und Teasermaterial diskutiert hatte, stellte die 45-minütige Fassung von Freier Mensch vor.
Neben den Mitgliedern der doku.klasse waren auch alle StipendiatInnen des Jahrgangs 2016 zur Festivalpremiere des Films gekommen: Florian Baron, Kilian Helmbrecht und Rosa Hannah Ziegler. Dazu hatten sich SchülerInnen mehrerer Duisburger Schulen im Kino eingefunden sowie die Kooperationspartner und Förderer des Projekts: die 3sat-Redakteure Udo Bremer und Daniel Schössler, Johannes Dicke (Stabsstelle Programmplanung ZDF/3sat), Leopold Grün (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen e.V.), Ingo Kottkamp (Deutschlandradio Kultur) und Ruth Schiffer, die Filmreferentin des Landesministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport. Aycha Riffi (Grimme-Akademie) führte durch die Veranstaltung.
„Das waren wichtige Sensibilisierungen, die mich im weiteren Produktions-prozess begleitet haben“
Andreas Hartmann war im Rahmen der doku.klasse bereits mehrmals in Duisburg. Zunächst während der Stoffentwicklung, als Gast des Festivals 2015 und ein halbes Jahr später stellte er eine erste Rohschnittfassung im Kino filmforum zur Diskussion. „Für mich war das eine schöne Zeit“, sagte er im Gespräch mit Aycha Riffi. Er habe durch die WorkshopteilnehmerInnen eine große Bestätigung für sein Konzept erfahren – auch wenn es bisweilen kritische Nachfragen gegeben habe. Nach dem Konflikt in der Geschichte etwa, der einer Jugendlichen gefehlt habe. „Das waren wichtige Sensibilisierungen, die mich im weiteren Produktionsprozess begleitet haben.“
Freier Mensch ist ein beobachtendes Porträt des jungen Japaners Kei, der sich freiwillig für die Obdachlosigkeit entschieden hat und unter einer Brücke in Kyoto lebt. Hinter ihm liegen ein abgebrochenes BWL-Studium und eine kurze erfolglose Episode beim Militär – vor allem aber ein Elternhaus, das ihm keinen Raum zum Denken und zur Selbstentfaltung gab. In der größtmöglichen Freiheit und Unabhängigkeit sucht er nun nach der Weiche für seinen zukünftigen Weg. Entspannung und einen wichtigen emotionalen Anker findet er in der klassischen Musik und im intensiven Erleben von Natur und Landschaft. Doch die Realität mit ihren ganz praktischen und letztlich existenziellen Anforderungen fordert immer stärker ihren Tribut.
Obwohl Andreas Hartmann mit langen, konzentrierten Einstellungen arbeitet und seinem Film in manchen Passagen einen fast kontemplativen Charakter gibt, kam unter den vielen jungen ZuschauerInnen im Kinosaal keine Unruhe auf. Es war die komplette Vorführung hindurch mucksmäuschenstill. Freier Mensch überzeugt in der Eindringlichkeit, mit der er seinem Protagonisten folgt und lässt den ZuschauerInnen das radikale Reset eines Lebenswegs nachspüren. Hier werden grundsätzliche existenzielle Entscheidungen verhandelt und getroffen.
Kennengelernt hat Hartmann den 22-Jährigen während eines Artist-in-residence-Aufenthalts in Kyoto. Japanisch spricht er nur bruchstückhaft und hatte daher bei den Interviews immer eine Dolmetscherin dabei. „Mit der Zeit bekam ich ein Gespür dafür, worum es in der Unterhaltung ging, auch wenn ich die Sätze im Einzelnen nicht verstand.“ Zwei Wochen lang folgte er Kei. Dieser sei kein Einzelgänger, sondern habe auch deswegen seine abgelegene Heimatinsel verlassen, weil er dort keine Freunde habe. In Kyoto hoffte er auf ein besseres soziales Umfeld. Der Film war laut Hartmann wichtig für den jungen Mann. Er zog daraus Bestätigung und Selbstbewusstsein. „Wenn wir andere Leute trafen, stellte er mich immer mit den Worten vor: ‚Das ist mein Kameramann‘.“
„Die Arbeitsweise ohne Team erlaubte mir die hundertprozentige Konzentration auf meinen Protagonisten“
Von Keis Entscheidung, doch wieder nach Hause zurückzukehren, um dort in einer Asphaltfabrik zu arbeiten, erfuhr Andreas Hartmann in Deutschland. „Dadurch bekam der Film natürlich eine andere Wendung“. Wie damit umzugehen sei und mit welchem Ende Freier Mensch aufhören solle – darüber wurde in der doku.klasse nach der Rohschnittsichtung heftig diskutiert. „Es standen zwei, drei mögliche Varianten im Raum, zu denen es viele unterschiedliche Meinungen gab. Letztlich musste ich mich für meine Meinung entscheiden. Auch das war für mich ein wichtiger Lernprozess.“
Aus dem Publikum kam die Frage, inwieweit Hartmann für bestimmte Bildkompo-sitionen Situationen mit seinem Protagonisten arrangiert habe. Konkret war die Anfangseinstellung des Films gemeint, in der Kei mit Kopfhörern an einem Fluss liegt und schläft. Hartmann: „Speziell in dieser Szene war nichts arrangiert. Kei war müde, legte sich hin und machte den CD-Player an. Ich stand mit dem Kamerastativ über ihm, doch das störte ihn nicht – und er schlief tatsächlich ein.“ Eine solche Aktion sei eine „Gedulds- und Sensibilitätsfrage“, so der Regisseur. Außerdem sei sie nur mit seiner Arbeitsweise möglich gewesen: Andreas Hartmann drehte allein, ohne Team. „Das erlaubte mir die hundertprozentige Konzentration auf meinen Protagonisten.“
Für den Regisseur war Freier Mensch auch eine wertvolle persönliche Erfahrungsreise. Er habe neue Leidenschaften entdeckt, erzählte er. Für die klassische Musik zum Beispiel. Oft sei er auch allein in dem Musikcafé in Kyoto gewesen, in dem einige der eindrücklichsten Szenen des Films stattfinden. Dazu passend arbeitet Andreas Hartmann zur Zeit an einer Hörstückfassung von Freier Mensch im Rahmen der doku.klasse – Kooperation mit Deutschlandradio Kultur. Die nächste Premiere steht also unmittelbar bevor: Ausstrahlungstermin ist der 17. Dezember 2016. Die „Ab 18!“-Fernsehfassung des Dokumentarfilms ist in der 3sat Mediathek abrufbar.