Salon

Nicht wissen, was passieren soll.

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Die Referenz erweisen (6): Ein Gespräch zwischen dem Filmemacher Andreas Hartmann und dem Filmkritiker Jan Künemund.

„Ich mag es generell, an einem Ort zu sein, wo ich die Sprache nicht verstehe, um mich so künstlerisch in eine gewisse Unsicherheit zu begeben. Denn im Moment der Unsicherheit habe ich die größte Sensibilität.“

Jan Künemund: In deiner künstlerischen Entwicklung gibt es viel Bewegung. Von deinem Kamerastudium hin zur Regie, dann von Spielfilm- zu dokumentarischen Arbeiten, schließlich der Weg nach Asien, wo – an verschiedenen Orten – bisher alle Filme von dir entstanden sind. Hängen diese Bewegungen zusammen?

Andreas Hartmann: Mit 18 war mein Traum, Kameramann für Spielfilme zu werden. Im Studium gab es dann einen ausschlaggebenden Moment, an dem ich für mich entschieden habe, meinen Weg zu ändern – eine Exkursion von Kamerastudierenden nach Vietnam, die dort mit vietnamesischen Regisseur*innen Dokumentarfilme machen sollten, die dann aber keine Zeit hatten. So kam es dazu, dass ich während meines Studiums allein meinen ersten langen Dokumentarfilm drehte, über eine Familie, die in Mittelvietnam in einem Überschwemmungsgebiet lebt und an einem Umsiedlungsprogramm teilnimmt. Das war ein besonderes Erlebnis des nonverbalen gemeinschaftlichen Arbeitens. Ich sprach kein Vietnamesisch, die Familie kein Englisch. Trotzdem ist eine innige Beziehung entstanden, die bis heute anhält.

Wenn du aber die Gespräche nicht verstanden hast, was hat dann eigentlich deine Wahrnehmung bestimmt?

Ich mag es generell, an einem Ort zu sein, wo ich die Sprache nicht verstehe, um mich so künstlerisch in eine gewisse Unsicherheit zu begeben. Denn im Moment der Unsicherheit habe ich die größte Sensibilität. Ich achte auf Energien. Man merkt, wenn sich zwei Menschen unterhalten, ob das, was sie reden, relevant ist oder nicht. Ich komme von der Kamera, alles startet mit dem visuellen Interesse.

Könntest du das am Beispiel einer Szene konkretisieren? Es gibt in deinem zweiten Film, „My Buddha is Punk“, in dem du eine Gruppe von Jugendlichen in Myanmar begleitest, einen Konflikt zwischen dem charismatischen Protagonisten Kyaw Kyaw und einem eher anarchistisch argumentierenden Kumpel, der die kritische Frage nach Führerschaft in der Gruppe stellt. Wie hast du entschieden, wie du das drehst?

In der Situation war es Abend, alle haben sich getroffen und ihre Sachen gemacht. Ich habe das beobachtet und war ohne Team da. Bei solch langen Gesprächen suche ich mir einen bestimmten Ort, von dem aus ich das Geschehen mit der Handkamera gut einfangen kann. In diesem Fall war Kyaw Kyaw mein Hauptprotagonist, ich habe mich für seine Ausstrahlung, seine Anziehungskraft interessiert. Ich habe mich deshalb sehr nah zu ihm gesetzt und konnte von dort auch alle anderen Personen filmen, ohne meine Position zu verändern.

Würdest du sagen, dass allein durch die Entscheidung, von wo aus gefilmt wird, auf wen das Mikrofon ausgerichtet ist, zu wem eine physische Nähe herrscht, eine Inszenierung stattfindet?

Sicherlich. Eine Führung und Leitung des Blicks. Das ist Gestaltung. Und natürlich spürt der Protagonist die Anwesenheit der Kamera und nutzt sie vielleicht sogar, um seinen Kumpel zu belehren.

Ich verstehe die Vorteile einer Wahrnehmung, die vom visuellen Interesse ausgeht, sofort, mich interessieren aber auch die Grenzen der Methode. Eine Gefahr wäre für mich, dass man sich da von pittoresken Bildern beeinflussen lässt. Es gibt die in Drahtkörben eingespannten Schweine auf Gepäckträgern im ersten Film, das ist so ein Bild, das wohl jeder Mensch aus Europa filmen würde. Aber dieser Blick verschwindet immer mehr in der Entwicklung der Filme. In „Freier Mensch“, dem dritten Film gibt es diesen Blick auf scheinbar „fremde“ Zeichen (in diesem Fall in Japan) gar nicht mehr, er ist sehr auf den Protagonisten konzentriert, weitet sich kaum aus. Wie schaffst du diesen souveränen Umgang mit visuellen Verlockungen?

Ich versuche, mich inhaltlich und emotional meinen Protagonist*innen anzunähern. Ich versuche zu verstehen und suche nach Gemeinsamkeiten. Es ist immer ein magischer Moment, mit einer Kamera einer Person zu folgen und nicht zu wissen, was diese Person machen wird. Kei, der Aussteiger aus „Freier Mensch“, hat durch seine Lebensweise viele Menschen kennengelernt, dadurch entstehen ungeplante Situationen, auch durch die Anwesenheit der Kamera, die den Film weiterbewegen. Das hat für mich so viel mehr Wert, sich da mitzubewegen als jetzt z.B. irgendwelche Absurditäten Japans in Totalen einzufangen.

Kann man sagen, dass du nachzuempfinden versuchst, wohin die Aufmerksamkeit deiner Protagonist*innen geht? Es gibt z.B. die Szene, in denen Kei sich plötzlich nicht für den Weg, auf dem du ihn begleitest, interessiert, sondern für das Moos an einem Baum.

Genau, das hat mich berührt. Und dann interessiere ich mich auch für das Moos. Oder für klassische Musik, die vorher für mich nicht so wichtig war. Ich kopiere aber das Interesse nicht, sondern finde interessant zu beobachten, wie er sich dafür interessiert.

Kann man deine Methode als „nachempfindendes“ oder „identifiziertes Schauen“ bezeichnen? Das spiegelt sich ja auch sehr schön im Thema deines Protagonisten, seinem interessegeleiteten Unterwegssein. Er nennt ja als einen Grund, warum er auf der Straße lebt, dass er interessante Menschen kennenlernen möchte.

Genau. Klingt vielleicht zu einfach, aber vielleicht ist das eine unterbewusste Suche nach mir selbst in den Protagonist*innen.

Kannst du dich konkret an Situationen erinnern, in denen du mit deiner Methode an Grenzen gestoßen bist, in denen du vielleicht anders reagiert oder etwas Anderes gefilmt hättest, wenn du in dem Moment verstanden hättest, um was es in den Gesprächen ging?

Ich möchte eigentlich nichts bereuen. Die Filme hätten sich ja sonst in eine andere Richtung hin entwickelt. Ich hatte ein Stipendium in der Villa Kamogawa in Kyoto, das liegt direkt am Fluss und ich bin mit dem Rad immer an einer Brücke vorbei und habe dann Kei kennengelernt. Er hat mir erzählt, dass er dort, unter der Brücke, lebt, dann habe ich darüber nachgedacht, über ihn einen Film zu machen. Am nächsten Tag wollte ich ihn auf seine Heimatinsel begleiten, wo er heimlich etwas aus seinem Elternhaus holen wollte. Da musste man mit einem Auto über eine Brücke. Aber Kei hat sich nicht so recht getraut, Autos anzuhalten, wir standen an einer Tankstelle und es wurde Abend. Ich habe mich in die Handlung eingemischt und Kei überzeugt, die Aktion abzubrechen und zurück nach Kyoto zu fahren. Hätte ich zu dem Zeitpunkt gewusst, dass Kei der Protagonist meines nächsten Films wird, hätte ich mit ihm da übernachtet und mal geschaut, wie es weitergeht.

Keis Suche, in der sich deine eigene Suche spiegelt, lässt sich mit deiner Methode des identifizierten Schauens sehr gut abbilden. In „My Buddha is Punk“ hast du einen Protagonisten, der ein starkes Sendungsbewusstsein hat, der seine eigene Agenda ausbreitet, vielleicht wissend, dass du ihn in diesem Moment gar nicht verstehst. Liegt da nicht auch eine Grenze deiner Methode, dass jemand dieses Angebot ausnutzt?

Klar. Speziell mit diesem Protagonisten wurde es nach sechs Drehwochen schwierig. Da ist die Begeisterung für seine Energie und Leidenschaft etwas gekippt. Da meine Arbeitsweise ja eine rein beobachtende ist, was heißt, dass ich mich ausklammere aus dem Geschehen, hatte ich nicht die Möglichkeit, ihn zu konfrontieren und das zu hinterfragen, was er macht. Das passiert aber vielleicht nachträglich in der Montage, da bekommt man schon den Eindruck von jemandem, der auf einer Mission ist.

Ist die Montage für dich ein zweiter, völlig abgekoppelter Prozess?

Bisher gab es nach dem Dreh immer eine große Pause, in der ich das Material habe liegen lassen. Die Übersetzungsphase passiert beim Sichten des Materials, sie nimmt viele Monate ein, und dabei entstehen erste Ideen für die Dramaturgie. Das ist eine Puzzlearbeit, manchmal gibt es Verschränkungen zwischen Szenen, die nicht chronologisch geordnet sind. Oder Szenen, die ich aufsplitte und deren Einzelteile an verschiedenen Stellen im Film auftauchen. Der vietnamesische Vater beim Wahrsager in „Tage des Regens“ z.B., oder die Punks in dem Raum, in dem sie sich über Drogen und anderes austauschen. Das wirkt dann so, als seien das mehrere Unterhaltungen, es ist aber nur eine.

Das heißt, du baust da regelmäßige Strukturen nach, die du aus der Wirklichkeit der Figuren kennst, um sie in dem Film erfahrbar zu machen?

Genau. Natürlich geht es mir auch darum, dass der Film eine funktionierende Dramaturgie bekommt, aber er bildet trotzdem eine Realität ab. Und bleibt natürlich immer nah an dem, was mich ursprünglich beim Drehen interessiert hat. So abgekoppelt ist die Montage dann doch nicht.

Im Voice-Over von „Freier Mensch“ äußert Kei an einer Stelle, dass er keinen Grund mehr zu leben sähe, wenn er nicht seinen Interessen folgen könnte. Wir sehen ihn draußen, außer Atem, er wirkt aufgelöst. Ist diese Montage manipulativ?

Beides waren jedenfalls unterschiedliche Situationen: Das Interview hatte ich im Goethe-Institut gemacht, die Bilder entstanden, als Kei auf einen Berg läuft und dabei außer Atem gerät. Er hatte vorher eine Bronchitis, das erwähnt er an anderer Stelle kurz, aber man versteht es wahrscheinlich so, dass er diese Gedanken in diesem Moment auf dem Berg hat. Das ist vielleicht problematisch. Aber wir hatten verabredet, das Interview ohne Bild aufzuzeichnen, und daraus ergab sich die Frage, über welches Bild ich diese Aussage lege. Ich hätte mich für die „Realität“ entscheiden können, indem ich das Interview filme und im On zeige. Aber in dem Fall habe ich mich für die gestaltete Erzählung entschieden.

Die Frage wäre ja wieder, ob das eine Gestaltung ist, die ihm gerecht wird, oder ob du darin eher einen Kommentar auf ihn zum Ausdruck bringst.

Sie entspricht eher meinem Blick auf ihn, das muss ich offenerweise sagen. Als ich Kei den Film ein Jahr später gezeigt habe, war er mit ihm einverstanden, vermisste aber einige der positiven und lustigen Momente darin, die er unter der Brücke erlebt hat. Das hat mir zu denken gegeben. Habe ich ihn so abgebildet, wie er sich selbst sieht, oder habe ich jetzt zu sehr an einen guten Film gedacht, an eine spannende Dramaturgie? Aber trotzdem ist das ja kein klassischer Obdachlosenfilm geworden. Auf jeden Fall ist es ein subjektiver Blick. Hätte ein anderer Filmemacher einen Film über ihn gemacht, wäre der natürlich fundamental anders geworden.

Führst du auch beim Drehen schon Momente herbei, von denen du das Gefühl hast, sie könnten deinem Film dramaturgisch helfen?  In „Freier Mensch“ geht Kei am Ende nochmal in ein Musikcafé, in dem wir ihn schon häufiger gesehen haben, und hört ein Musikstück, er spricht aber auch mit dem Besitzer, der einige für den Film sehr wichtige Informationen mitteilt: dass Zeit vergangen ist, dass Kei wieder auf seine Insel gezogen ist, einen festen Job hat usw. Wie war hier das Verhältnis von Zufall, Absprache, Initiierung und – vielleicht – Inszenierung?

doku.klasse

Filmstill aus dem Film „Freier Mensch“ von Andreas Hartmann

Kei lebte nicht mehr in Kyoto, wir haben uns da verabredet. Weil er unter der Woche arbeiten musste und nur am Sonntag kommen konnte, mussten wir den Besitzer vorher fragen, ob er nur für uns an einem Sonntag sein Musikcafé öffnen könnte – insofern sind da viele Absprachen passiert. Was aber dann im Café passierte, ergab sich spontan. Dass der Besitzer ihn nach seiner Situation fragt, war nicht abgesprochen, vielleicht hatte er überlegt, was ein interessantes Gesprächsthema für den Film wäre, das kann passieren, wenn eine Kamera im Raum ist. Mir war der Ort wichtig, weil er für Kei wichtig war. Aber dass das die Schlüsselszene für den Film wird, dass da ein emotionaler Moment passiert und das sich das Gespräch so interessant entwickelt, das wusste ich vorher nicht. Es war nur ein Drehtag unter vielen.

In „Tage des Regens“ gibt es Hinweise, dass deine Anwesenheit Einfluss auf das Geschehen hat, z.B. dass du Malutensilien gekauft hast, mit denen dein Protagonist im Film zu sehen ist. Oder dass mit deinem Handy die Schwester angerufen wird, um sie um Geld zu bitten, was ja eine wichtige Szene ist. Wie kommt es zu solchen Situationen?

Das waren selbstverständliche Nettigkeiten, da die Familie auch sehr gastfreundlich war.  Vielleicht auch mit der Idee im Hinterkopf, dass man da etwas Spannendes drehen kann. Aber ich bin dankbar, dass sie das im Film angesprochen haben und dass unsere Beziehung dadurch sichtbar wird. Viele der auf diese Weise initiierten Szenen sind so deutlich in dem Film gekennzeichnet.

Mit „Initiieren“ im Unterschied zum „Inszenieren“ meinst du etwas Anstoßen, ohne zu wissen, was daraus entsteht?

Ja. Meine persönliche Grenze zur Inszenierung wäre erreicht, wenn ich wüsste, was passiert, bevor ich die Kamera anmache. Um zur ersten Frage zurückzukommen: Ich habe ja nach meinem ersten Dokumentarfilm auch nochmal fiktional gearbeitet, für mein Kamera-Diplom, das war ein langer Kinofilm, und die Arbeit hat mich nicht wirklich bereichert. Im Dokumentarfilm muss man nur da sein und präsent sein, und man bekommt lauter Realitäts-Perlen zugeschickt. Im Spielfilm weiß man, was passieren soll.

 

Die „Ab 18!“- Produktion „Freier Mensch“ ist in der 3sat-Mediathek verfügbar.

Andreas Hartmann (geboren 1983 in Paderborn) lebt in Berlin und arbeitet als Filmemacher, Kameramann und Fotograf. Er absolvierte eine Ausbildung zum Mediengestalter und ein Diplom-Kamera Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in Potsdam-Babelsberg. Er war von 2011 bis 2013 bereits mehrmals als DAAD-Stipendiat im Ausland (Burma und Vietnam), um dort seine Diplomarbeit zu schreiben und das Dokumentarfilmprojekt „My Buddha is Punk“ zu realisieren, das 2015 seine Weltpremiere auf dem „Festival dei Popoli“ in Florenz feierte. Während eines Aufenthaltes in Kyoto arbeitete er an seinem dokumentarischen Filmprojekt „A Free Man“ (Freier Mensch). Der Film wurde von 3sat für die Sendereihe „Ab 18!“ ausgewählt

Jan Künemund, freier Filmjournalist und Kurator, lebt in Berlin, hat für einen Kinoverleih gearbeitet und Medienwissenschaften an der Uni Hildesheim unterrichtet, das Queer-Cinema-Magazin „Sissy“ herausgegeben, ist Mitglied der Auswahlkommission der Duisburger Filmwoche und Berater des Berlinale Forums.