Atelier

Eine Geschichte muss mitreissen

Insa Onken

Workshop zum Projekt “Ich, Kevin!“ (AT) von Insa Onken und Gerardo Milsztein

Danach ist man schlauer. Im Falle von Insa Onken und Gerardo Milsztein wurde der Spruch konkret. Denn die beiden Regisseure zogen viel Produktives für ihr Projekt aus dem ersten Workshop der doku.klasse.  „Wir sehen jetzt noch klarer, wo die Stärken, mögliche Schwächen und das filmische Potential unseres Konzepts liegen“, sagte Gerardo Milsztein nach dem sechsstündigen Arbeitstreffen mit zehn jungen Erwachsenen im Künstlerhaus in Duisburg. Ihr Exposé zu “Ich Kevin“ sei intensiv analysiert worden, so der gebürtige Argentinier, mit „viel Ernsthaftigkeit und Empathie“. Und dabei ging es mitunter kontrovers, immer aber sehr konstruktiv zur Sache.

Eines der Diskussionsthemen war generell der Weg vom Treatment zum fertigen Film. Dieser Text nehme für ihren Geschmack schon zu viele Informationen vorweg, merkte eine Teilnehmerin kritisch an. Der Interviewausschnitt, den die beiden Filmemacher vorbereitet hatten, habe sie noch neugieriger auf den Protagonisten Kevin gemacht als das Geschriebene. Insa Onken konterte die Kritik mit dem Verweis, dass sich ein Exposé in erster Linie an die Redaktion richte, und die benötigt ein so umfassendes Bild des Protagonisten wie möglich, um ihn kennenlernen und einschätzen zu können. In der gemeinsamen Analyse des Stoffes räumte Onken ein, dass die Darstellung von Kevin im schriftlichen Konzept möglicherweise eine Spur zu einseitig geraten sei, wodurch Kevin zu sehr als passives Opfer und zu wenig als handelnde Person mit Eigeninitiative rüberkomme.

“Ich, Kevin!“ (AT) ist das Porträt eines jungen Mannes, der sich mit dem System Schule nicht arrangieren konnte und in die Langzeitarbeitslosigkeit abgerutscht ist. In einem Theaterprojekt findet er langsam wieder Stabilität und Selbstvertrauen. Während die Filmemacher für Kevins Situation auch das System selbst verantwortlich machen, das jeden rigoros ausschließe, der nicht mitspielt (Milsztein: „Kevin ist ehrlicher als andere, sich an das System anpassende Jugendliche“), vertraten einige der Workshop-Teilnehmer eine entgegengesetzte Position. Tenor: Ohne Anpassung geht es nicht. Die Schule sei ein notwendiges Übel, und manchmal müsse man einfach in den sauren Apfel beißen. Für eine andere Fraktion macht die Verweigerungshaltung Kevins, sein Anderssein, auch seine Unberechenbarkeit, aber genau das Faszinierende an seiner Figur aus: Hier sucht einer seinen eigenen Weg.

In der visuellen Umsetzung schwebt den Regisseuren eine Kameraführung vor, die den Protagonisten erst aus der Nähe in den Blick nimmt und dann in „etablierenden Beobachtungen“ (Milsztein) nach und nach aus einer größeren Distanz dokumentiert. Warum sie nicht umgekehrt vorgingen, so wie es im alltäglichen Leben üblich sei, wurde in der Runde gefragt. Onken: „Wir wollen den Zuschauer direkt an Kevin heranführen, weil wir glauben, dass er nicht sofort die ‚gewinnendste‘ Person ist und der Zuschauer die Nähe braucht, um ein Interesse und ein Gefühl für ihn zu entwickeln.“

Eine Idee, die recht neu ist und deshalb keinen Eingang mehr ins Treatment gefunden hat, ist es, die Mangas von Kevins Bruder, einem talentierten Zeichner, zu animieren und als eine Art biografische Fantasieebene von Kevin im Film zu etablieren. „Wäre das eine Bildsprache“, fragte Milsztein die Gruppe, „die euch so weit anspricht, dass ihr bei einem Dokumentarfilm hängen bleiben würdet?“ Die Reaktionen waren eher verhalten: Ob ein solches, nicht-dokumentarisches Verfahren noch authentisch sei, gab eine Teilnehmerin zu bedenken. Und: Wären die Mangas wirklich eine Ausdrucksform, die Kevin entspricht, wo doch sein Bruder die Zeichnungen malt und nicht er?

In der Folge entspann sich ein spannender Diskurs um die Frage, was Kriterien für ‚junge‘ Bild- und Erzählstrategien im Dokumentarfilm sein könnten – oder ob diese Frage gar nicht eindeutig und generell zu beantworten sei. Gudrun Sommer, Initiatorin und Leiterin der doku.klasse, argumentierte in diese Richtung: „Ich glaube nicht, dass man von den Sehgewohnheiten jugendlicher Zuschauer sprechen kann. Es gibt da eine große Vielfalt“, sagte sie. Außerdem würde diese Zielgruppe oft nicht-konventionelle visuelle und narrative Verfahren im Dokumentarfilm schlicht gar nicht kennen und müsste damit erst bekannt gemacht werden.

Insa Onken nahm als Fazit aus der Ästhetik-Diskussion für sich mit, dass man das junge Publikum nicht zwangsläufig dadurch gewinne, indem man einen Film auf jung trimme: „Es geht nicht darum, dass wir verwackelte Handybilder verwenden und die Protagonisten SMS schreiben lassen, nur weil wir denken, dass ist die Bildsprache junger Leute und hält sie bei der Stange.“ Und: „Letztlich gilt für die Jüngeren doch dasselbe wie für die Älteren: Eine Geschichte muss mit eine ehrlichen Haltung erzählt werden, berühren und mitreißen.“