In seinem Dokumentarfilm ,,Freier Mensch“ und dem Hörstück „Jiyujin – Freier Mensch“ porträtiert Andreas Hartmann den 22 Jahre alten Kei, der sich gegen den Wunsch seiner Eltern für ein Leben auf den Straßen Kyotos und somit gegen die gesellschaftlichen Leistungsanforderungen entscheidet. Kei hat großes Interesse an der klassischen Musik, die den eher in sich gekehrten jungen Mann immer wieder in Traumwelten abschweifen lässt. Schnell muss er sich jedoch, aufgrund von Geldmangel, auf die harte Realität einlassen und übernimmt schlecht bezahlte Jobs. Schließlich zieht er zurück zu seiner Familie und arbeitet im Straßenbau.
Andreas Hartmann ist der erste Stipendiat, der im Rahmen der doku.klasse einen Stoff für die Hörfunk und die Fernsehauswertung realisiert hat. Was für einen Filmemacher diese mediale Parallelaktion in der konkreten Arbeit bedeutet, hat die doku.klasse-Teilnehmerin Finia Thiele in einem Interview mit dem Berliner besprochen, das wir hier veröffentlichen.
Film und Hörstück stehen weiterhin zur Nachlese in den Mediatheken von Deutschlandradio Kultur und 3sat zur Verfügung.
Wieso hast du dich zusätzlich zu deinem Film für das Hörstück als weiteres Medium entschieden, um Keis Geschichte zu erzählen?
Als mich das Deutschlandradio Kultur gefragt hat, ob ich aus dem Stoff auch ein Hörstück machen möchte, war ich sofort begeistert. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Geschichte des freien Menschen sehr für ein Hörstück eignet und dass sich Keis innere Gedankenwelt sehr gut in diesem Medium transportieren lässt. Außerdem habe ich es als Herausforderung gesehen. Ich fand es reizvoll, mich mal in einem anderen Medium auszuprobieren und die Geschichte nur auf der Tonebene zu erzählen. Das Radiofeature ist mit seinen 55 Minuten etwas länger als der Film und da das Bild wegfällt, bietet sich mehr Raum für Text und Dialoge. Ich wollte im Feature inhaltlich nochmal tiefer in das Thema einsteigen.
Du hast den Film und das Feature mit Begleitung durch die doku.klasse erstellt. In welchen Punkten hat dich die Zusammenarbeit am meisten beeinflusst?
Die einzelnen Punkte kann ich gar nicht genau benennen. Die Zusammenarbeit mit der doku.klasse, von der Stoffentwicklung bis zur Schnittphase, war einfach insgesamt für das ganze Projekt sehr bereichernd. Es war für mich wahnsinnig hilfreich, direktes Feedback von einem potentiellen Publikum zu bekommen, das gleichzeitig auch der Generation meines Protagonisten angehört.
Die Erzählung im Feature wird an manchen Stellen durch eine Frauenstimme verstärkt. Was soll diese repräsentieren?
Es sind chorische Stellen bestehend aus vier Stimmen. Wir hören Kei im japanischen Original, Tino Mensel als Kei im deutschen Voice Over und Eva Meckbach und Arnd Klawitter als innere Stimmen, welche entweder die Eltern oder die Gesellschaft repräsentieren sollen. Hiermit wollte ich die Präsenz der Eltern und der Gesellschaft, sowie ihre Erwartungen verbildlichen und spürbar machen.
Auch in Deutschland reißen viele Jugendliche von zu Hause aus und verweigern sich dem Bildungssystem. Was hat dich dazu bewogen, dein Projekt in Japan zu realisieren? Und hätte es theoretisch auch in Deutschland verwirklicht werden können?
Ja, das stimmt. Theoretisch wäre es auch möglich gewesen in Deutschland einen Film zu diesem Thema zu machen. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich meine Filme in der Regel nicht nach Themen aussuche, sondern nach Protagonisten. In der Regel ist es so, dass ich erst auf einen interessanten Protagonisten stoßen muss, bevor ich mich dazu entscheide, einen Film zu drehen. Das Thema entsteht sozusagen über die Begegnung mit einem Menschen. Für diesen Menschen muss ich eine gewisse Empathie spüren, um mich dann für einen Film zu entscheiden. Genauso war es auch bei Kei.
Konntest du dir einen Eindruck davon machen, ob es in Japan häufig zu derartigen Gesellschaftsausbrüchen kommt oder würdest du Kei eher als Einzelfall bezeichnen?
Kei ist kein Einzelfall, aber eine Seltenheit. Derartige Gesellschaftsausbrüche sind eher ungewöhnlich in Japan. Aber sie kommen natürlich vor. Dort wo die Gesellschaft hohe Erwartungen an einen stellt, brechen die Menschen auch aus.
In einem Gespräch mit der doku.klasse hast du erzählt, dass du den Protagonisten selbst, ohne großes Kamerateam, gefilmt hast, wodurch eine gewisse Intimität entstanden sei. Inwieweit hast bzw. konntest du dadurch Einfluss auf den Verlauf und die Dramaturgie nehmen?
Ich denke man nimmt als Filmemacher durch seine Anwesenheit immer Einfluss auf die Realität. Man tritt in eine Interaktion mit dem Protagonisten und beeinflusst sich dadurch gegenseitig, auf ganz natürliche Weise. Mein Leben ist anders seit ich mit Kei gedreht habe und Keis ist sicher auch anders seit unseren Dreharbeiten. Ich denke schon, dass ich die Dramaturgie beeinflusst habe. In gewisser Weise sehe ich das auch als meine Aufgabe als Filmemacher. Für mich zeigt ein Dokumentarfilm keine objektive Realität, sondern erzählt eine Geschichte aus der subjektiven Perspektive des Filmemachers. Ich schätze, dass ich allein gedreht habe, hat mir dabei geholfen, mich richtig auf Kei und auch auf mich selbst einzulassen und dadurch wirklich die Geschichte zu finden, die ich erzählen wollte.
In deinem Film können wir sehr verschiedene Reaktionen auf Keis Lebensstil beobachten. Wie würdest du persönlich den Umgang zwischen Gesellschaft und Menschen wie ihm beschreiben?
Ich war überrascht, wie offen die Menschen ihm und seinen Freunden unter der Brücke gegenüber waren. Ich konnte in Japan zwischen den Menschen sehr großen Respekt beobachten. Solang man sich selbst respektvoll verhält, wird man auch von seinen Mitmenschen mit großem Respekt behandelt. Trotz der leistungsorientierten und von Konformität geprägten Gesellschaft, gibt es in Japan meiner Meinung nach eine große Toleranz und Akzeptanz für die Realität des jeweils anderen.
Auch in seiner Rolle als Obdachloser ,,Jiyujin“ (Freier Mensch) fühlt sich Kei nicht komplett frei. Siehst du für ihn überhaupt eine Nische, in einer solchen durch Arbeit geprägten Gesellschaft wie der japanischen, die ihm ein erfülltes Leben bieten kann?
Die Nische sehe ich schon. Und ich würde mir auch für Kei wünschen, dass er eine Arbeit innerhalb seiner Interessen findet. Zum Beispiel hat er einmal geäußert, dass er gerne in einer Selbstversorger-Gemeinschaft auf dem Land leben würde. Um einen Platz in seiner Nische zu finden, braucht es natürlich etwas Lebenserfahrung, Zeit und auch ein paar Rücklagen. Man muss wissen, was man will und was man kann und braucht dann die Freiheiten, dies auch umsetzen zu können. Kei ist ja noch sehr jung. Ich denke er braucht einfach noch ein bisschen Zeit.
Am Ende scheint es, dass Kei dem Druck nicht standhalten kann. Er zieht zurück in sein Elternhaus und sucht sich eine Arbeit. Mit welchem Gefühl hast du deine Arbeit mit Kei beendet?
Mit einem recht guten. Ich hatte den Eindruck, dass Kei mit der Situation zufrieden ist. Er hat versucht, sich innerhalb der festen Strukturen kleine Freiheiten zu suchen, die ihn glücklich machen. Außerdem glaube ich, dass er durch die Zeit auf der Straße sehr gereift ist, was ihm einen neuen Blick auf die Dinge geben lässt. Er konnte sich von den Zwängen und Erwartungen seiner Eltern und der Gesellschaft losreißen. Das war schon mal ein großer Schritt. Aber ich denke nicht, dass er für immer in der Asphaltfabrik bleiben wird. Sicher plant er schon neue Abenteuer. Aber zurück auf die Straße möchte er nicht mehr, soviel hat er mir verraten.