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Liebe ist stärker

Die doku.klasse mit Felix Rier zu „Undine*“ war ein besonderer Tag, der allen Teilnehmenden im Gedächtnis bleibt. Undine* versucht, ihre seelischen und körperlichen Traumata, die durch sexuelle Gewalt verursacht wurden, zu verarbeiten. Felix Rier begleitet sie und hilft ihr damit.

Undine* wohnt im 21. Stock eines Hochhauses im Osten von Berlin. Es ist eine geschützte Welt dort oben, die sie mit ihrem Freund Thiago und dem gemeinsamen Labrador teilt. Sobald die Tanzlehrerin und Choreografin aber nach draußen tritt und in die kalt gefliesten U-Bahnschächte der Großstadt eintaucht, beginnt für sie eine Zone des Unbehagens und der Unsicherheit. Kurz nach ihrem 24. Geburtstag wurde Undine* Opfer sexueller Gewalt. Die Erfahrung riss in der jungen Frau tiefe physische und emotionale Wunden. Im Tanz und in einer Therapie sucht sie nach einem Weg aus dem Trauma. Doch erst als sie schwanger wird, scheint ein Wendepunkt erreicht – und in Undine* erwacht eine neue und innige Verbundenheit zu ihrem eigenen Körper.
Die Intimität, die diese Thematik mit sich bringt, ist auch in der kleinen Runde zu spüren, die sich getroffen hat, um erste Einblicke in Felix Riers Stoff zu erhalten.
Felix kennt Undine* aus Kindheitstagen. Sie kommen aus demselben Dorf in Südtirol, waren sogar die erste Liebe des jeweils anderen. Beide hat es nach Berlin verschlagen, wie Felix erzählt. Dort treffen sie sich wieder, eine enge Verbundenheit ist nach wie vor da.
Felix’ Ausbildung in einer Berliner Werbefirma entwickelt sich inhaltlich und auch moralisch für ihn zur Katastrophe, weshalb er den Kontakt zu Hannes Lang sucht – dem erfolgreichen Dokumentarfilmemacher aus Südtirol, dessen Stil Felix bewundert. Dieser hilft ihm nicht nur die richtige Entscheidung für seine weitere Ausbildung zu treffen, sondern gibt ihm auch die Möglichkeit, in seinem Film „Riafn“ als Tongestalter mitzuwirken.

Kurz bevor Felix dann zum Studium an die ZeLIG Dokumentarfilmschule nach Bozen gehen will, erfährt er, was Undine* widerfahren ist.

Im Krankenhaus berichtet sie ihm von der brutalen Vergewaltigung, die sie nur knapp überlebt hat. Auch in der doku.klasse ist die Anspannung zu spüren, als Felix dann seinen ersten Film präsentiert, der an der ZeLIG entstanden ist. „ein mann zu sein“ ist durch die Aufgabenstellung „Sound before image“ ein Brief an Undine*. Felix spricht von seiner Scham, von seinem Gefühl, während seine Freundin von dem Erlebten erzählt. Zu sehen ist nur ihr Auge in der direkten Reaktion auf Felix’ einfühlsame, aber auch verzweifelte Worte, die er selbst vorliest.
In der doku.klasse fällt es danach zunächst schwer, überhaupt Worte zu finden. Eine Teilnehmerin formuliert es so: „Bei so etwas Schrecklichem sagt man lieber gar nichts, bevor man etwas Falsches sagt.“ Umso überraschender ist dann der Teaser zu „Undine*“. Die Frau im Film empfinden alle als unglaublich starke und positive Person, die vor Kraft und Energie strotzt. Und das, obwohl Felix uns auch Momente des Verzweifelns und der Trauer zeigt. Undine* lebt in einer gesunden Beziehung mit ihrem Freund Thiago, hat eine funktionierende Therapie und schöpft viel Kraft aus ihrer Passion, die auch ihre Arbeit ist: das Tanzen. Die Tanzszenen, die Felix präsentiert, sind für alle maßgeblich für das Bild, das von der Protagonistin erschaffen wird. Deutlich wird aber auch, dass es vor allem die Verbindung von Felix und Undine* ist, die dieses Projekt so besonders macht. Ein Teilnehmer der doku.klasse nennt „Undine*“ deshalb einen „Film über eine Freundschaft“. Die Freundschaft, so berichtet Felix, ist erst nach und nach mehr auch vor die Kamera gerückt. Denn zu Beginn der Dreharbeiten war er vorwiegend stiller Betrachter, dann taucht er mehr und mehr als Freund und Gesprächspartner auf. Für die doku.klasse ist auffällig, wie sensibel Felix dabei auf seine Freundin und Protagonistin eingeht. Zuletzt präsentiert Felix noch Szenen aus einem Geburtsvorbereitungskurs, die in hellen Farben und mit glücklichen Gesichtern fast wie ein strahlendes Happy End wirken, denn Undine* ist schwanger. Felix erzählt, dass er selbst bei der Rückkehr der Eltern mit dem neugeborenen Baby aus dem Krankenhaus nach Hause die Glückstränen nicht zurückhalten konnte.

Es bleiben Fragen offen:

Wie soll der Film beginnen? Soll die Vergewaltigung direkt „auf die zwölf“ benannt werden? Drückt man der Protagonistin damit nicht den „Opferstempel“ auf? Wie soll der Film enden? Ist die Geburt des Babys nicht zu klischeebehaftet? Wie soll der Film heißen? Denn Undine* ist ein Pseudonym aus einem Zeitungsartikel, erfährt die doku.klasse. Deswegen auch das Sternchen. Diese Benennung ist hängen geblieben bei Felix – Undine, der weibliche, jungfräuliche Wassergeist, eine Sagengestalt. Was hat sich der Zeitungsjournalist dabei gedacht? Und ist Felix’ Freundin nicht viel mehr als diese Undine*, die durch die Vergewaltigung entstanden ist? Gerade darum geht es doch.
Die doku.klasse ist gespannt, wie Felix Rier diese gleichzeitig schreckliche und doch so beeindruckende Geschichte weiter erzählen wird.

Wer Veränderung möchte, sollte die Norm ändern

Um sich der Protagonistin Lotti und ihrem Umfeld anzunähern, bedient sich Regisseurin Lea Schlude der Familienaufstellung, einer Methode aus dem Bereich der Familientherapie, mit der zwischenmenschliche Beziehungen veranschaulicht werden. Die doku.klasse nutzt dafür kleine Tierfiguren, die die Regisseurin mitgebracht hat. Diese werden auf einem Tisch (der das Ruhrgebiet darstellt) angeordnet, um der Gruppe einen greifbaren Zugang zur Thematik ihres Projekts „Lotti auf Schicht“ zu ermöglichen.

 

Lotti ist eine Meisterin im Spagat und jongliert zwischen ihren verschiedenen Rollen. Als einzige Frau und queere Person in der Produktion eines führenden Stahlunternehmens im Ruhrgebiet behauptet sie sich in einer männerdominierten Welt und setzt sich als Betriebsrätin für eine grüne Transformation der Stahlindustrie ein. Nach Schichtende kümmert sie sich um ihren Vater. Ein Leben immer in Bewegung und unter Beobachtung. Von den Medien und vom firmeneigenen Marketing wird sie aufgrund ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Identität als Role Model gefeiert. Im Kollegenkreis erfährt sie häufig Vorurteile und wird Zeugin von Homophobie und Sexismus. Doch die 26-Jährige geht mutig ihren Weg und sucht den Strukturwandel – auf allen Ebenen.
Dass Lea ein Gespür für das Zwischenmenschliche hat, zeigt sich bereits in ihrem Debütfilm „San Cipriano Road“ (2019) so wie im Recherchematerial zum neuen Stoff.

 

Mit dieser Beobachtung werden neue Figuren und Gegenstände angeordnet und mögliche Szenarien spielerisch dargestellt. „Lotti ist die Mandarine, weil sie unterschiedliche Kammern hat und Lotti so vielschichtig ist“, schlägt eine Teilnehmerin vor. Die Figur eines Tukans steht stellvertretend für vorherrschende Probleme im Arbeitsmilieu der Stahlindustrie, wie beispielsweise Sexismus und Alkoholismus. Die doku.klasse stellt die Frage, wie Lea die Probleme der Arbeitswelt authentisch einfangen will. Zudem wird hinterfragt, wie unbefangen Lotti vor der Kamera über ihre Erfahrungen sprechen kann. Lea vermutet, dass es eine Herausforderung sein könne, ehrliche Antworten von Lottis Kollegen zu genannten Problematiken einzufangen. Die Filmemacherin erklärt aber auch, dass Lotti ein gutes Standing in der Firma habe, für sich und den Betrieb einstehe. Lotti positioniert sich öffentlich für eine klimafreundliche Zukunft der Stahlindustrie und setzt sich für einen geschlechtergerechten und strukturellen Wandel in der Branche ein. Sie appelliert an ihre Firma, dass sie Veränderungen und Nachhaltigkeit zulassen muss. Im aktivistischen Kontext artikuliert sich Lotti sicherlich anders als im Umgang mit ihren Kollegen. Mit ihrer feministischen Haltung lässt sie sich jedoch von niemandem unterkriegen. Ursprünglich verschlug es die Regisseurin für einen anderen Film nach Gelsenkirchen. Sie zog dort in eine WG und lernte so ihre jetzige Protagonistin kennen. Lea will von der doku.klasse erfahren, welche Bilder zu vermeiden sind, wenn das Ruhrgebiet porträtiert wird. Schnell werden klischeehafte Darstellungen von Armut und grauer Industriekultur genannt. Auch der Gebrauch von Musikstücken, die vermeintlich mit den einzelnen Orten assoziiert werden, seien oft stereotypisch. Gemeinsam mit Lea sucht die doku.klasse nach repräsentativen Bildern und wünscht sich mehr private Einblicke in Lottis Leben. Der „Tag der Arbeit“ bietet für die Regisseurin zudem eine optimale Möglichkeit, die junge Generation in der Industrie zu Wort kommen zu lassen. „Ich will den Film für junge Leute erzählen, die überlegen, ob sie studieren wollen oder nicht und wie die Arbeitswelt und die Lohnarbeit aussieht und welche Perspektiven sie ihnen bietet“, bekräftigt Lea abschließend.

 

Auf Tauchstation

Auf Tauchstation „Das ist eine Geschichte, die es total wert ist, erzählt zu werden“, bekräftigt eine Teilnehmerin der doku.klasse am Endes des Treffens mit Regisseur Florian Baron und spricht damit wohl der gesamten Gruppe aus der Seele. Die doku.klasse trifft sich diesmal schon zu einem ganz frühen Zeitpunkt des Filmprozesses mit Florian, um über sein neues Projekt „Speara“ zu sprechen.

 

Ohne Sauerstoffflasche und nur mit einer Harpune macht sich Mitsuki auf die Jagd. Aufgewachsen in Japan, lebt die 26-jährige Meeresbiologie-Studentin seit einigen Jahren in Kalifornien und hat sich vom Newbie zur Weltrekordhalterin im Speerfischen entwickelt. Sie ist eine von wenigen Frauen in diesem Sport, der in den USA häufig von Ex-Soldaten ausgeübt wird. Für Mitsuki ist das Speerfischen weniger ein Wettbewerb als eine Lebenseinstellung. Als Kind wäre sie bei einem Schwimmunfall fast ertrunken und hielt sich danach bis zu ihrem 21. Lebensjahr vom Wasser fern. Auf Social Media weist sie auf die Effekte des Klimawandels hin und zeigt, wie man Fische voll verwertet. Das Porträt einer beeindruckenden jungen Frau, die dazu anregt, sich mit Fragen von Identität, Kultur und Geschlechterrollen auseinanderzusetzen.
Florian ist kein Unbekannter für die doku.klasse, denn sein Film „Joe Boots“ wurde bereits 2016 in der doku.klasse und dann im doxs! Festivalprogramm gezeigt. Man merkt, dass sich alle über das erneute Wiedersehen freuen und dass es heute nicht nur um das neue Filmprojekt gehen soll, sondern auch um Florians frühere Projekte und seine Herangehensweise an Dokumentarfilme. Er berichtet von seinem Bezug zu Japan, dem Land, in dem er nach dem Abitur einige Zeit gelebt hat und wo sein erster Dokumentarfilm entstanden ist. „The Video Market“ (2008), der die Verkäufer*innen auf einem Markt in Japan in den Fokus nimmt, wird bei der doku.klasse nochmal gezeigt und diskutiert. Für seine persönliche Entwicklung sei dieser Dreh sehr wichtig gewesen, erzählt Florian:

„Das war für mich wie ein Extremkurs Dokumentarfilm“

Die Teilnehmenden sind insbesondere davon fasziniert, wie der Prozess des Dokumentarfilmens selbst total transparent gemacht wird. Anschließend steht der Kurzfilm „Joe Boots“ im Fokus. Die ersten Reaktionen nach dem Sichten machen deutlich, dass es sich hier um einen ganz besonderen Film handelt. „Der geht richtig an die Nieren“, stellt eine Teilnehmerin fest. Joe Boots, der titelgebende Protagonist, ist ein amerikanischer Veteran, der an PTSD (Postraumatische Belastungsstörung) leidet. Die besondere Kraft des Films entfaltet sich durch die außergewöhnliche Narration von Joe, aber auch durch die immersiven Slow-Motion-Bilder, die Florian und sein Drehpartner Johannes Waltermann eingebaut haben.
Anhand von „Joe Boots“ debattiert die doku.klasse länger über die Bedeutung der Beziehung zwischen dem Filmschaffenden und dem Protagonisten. Gerade beim Dokumentarfilm ist dies ein ganz wichtiger Aspekt, da sind sich alle einig. Auch Florian erzählt, wie sich das Verhältnis im Laufe der Zeit gewandelt hat – inzwischen sind er und Joe quasi befreundet und waren gemeinsam auf Festivaltour. Das Kennenlernen von potenziellen Protagonist*innen sei immer etwas ganz Besonderes, so Florian – „denn keine zwei Protagonist*innen sind gleich“. An dieser Stelle wendet sich die doku.klasse dem neuen Filmprojekt zu, das Florian und Johannes gerade planen.
„Speara“, so lautet der aktuelle Arbeitstitel, die weibliche Bezeichnung eines Speerfischers. Und darum soll es auch gehen, um Mitsuki, eine Weltrekordhalterin im Speerfischen, die aus Japan kommt und in Los Angeles lebt. Florian berichtet, wie er über einen Zeitungsartikel auf Mitsuki aufmerksam geworden ist und sie dann über Instagram kontaktiert hat. Die Unterwasserwelt habe ihn schon immer fasziniert und Mitsuki als Protagonistin scheint für ihn viele spannende Aspekte zu vereinen: Was es bedeutet, sich als Frau in einer Männerdomäne zu beweisen, wie es ist, als Japanerin in Amerika zu leben und was das Speerfischen als nachhaltige Fischerei mit Klimawandel und Umweltschutz zu tun hat. Beim ersten Treffen hätten sie sich sofort verstanden, sogar absurde Gemeinsamkeiten festgestellt: So, wie Florian nach dem Abitur unbedingt aus Deutschland wegwollte und nach Japan gegangen ist, wollte Mitsuki unbedingt aus den Wertvorstellungen Japans ausbrechen und nach Amerika gehen. „Sie meinte dann beim Gespräch: Komm mit tauchen!“, und so konnte Florian Mitsuki beim Tauchen begleiten und Material für einen Teaser sammeln, den die doku.klasse gemeinsam schaut. Alle nehmen eine besondere Stimmung durch die Wasseraufnahmen wahr und es wird viel darüber diskutiert, wie sich die Unterwasserszenen beim tatsächlichen Dreh praktisch umsetzen lassen – schließlich sind weder Florian noch Johannes Taucher. Tatsächlich hätten sie aber bereits mit einem Tauchkurs begonnen, erzählt Florian. Außerdem geht es um die gesprochene Sprache in den Interviews. Es gäbe die Möglichkeit, mit Mitsuki auf Englisch oder Japanisch zu sprechen. Die doku.klasse ist sich einig, dass die Protagonistin selbst entscheiden sollte, mit welcher Sprache sie sich am wohlsten fühlt.
Die doku.klasse ist sehr gespannt, mehr von „Speara“ zu sehen und freut sich auf die Rohschnittsichtung, die vielleicht schon im nächsten Jahr stattfinden wird.

Wir halten Ausschau: Ausschreibung 2024

Die doku.klasse freut sich auf den elften Jahrgang und lädt Dokumentarfilmer*innen ein, Filmprojekte im Rahmen der 3sat Ausschreibung „DocuMe“ zu entwickeln. Auch in diesem Jahr werden kreative Ideen für Dokumentarfilme gesucht, die sich in besonderem Maße an junge Erwachsene richten.

Die doku.klasse bietet den Filmemacher*innen die Möglichkeit mit jungen filminteressierten Menschen in einen Dialog zu treten. Die ausgewählten Treatments werden vorab gelesen und im Rahmen eines Workshops zusammen in Duisburg diskutiert. Für die Stipendiat*innen eine Chance, die Themen und Sehgewohnheiten der jungen Teilnehmer*innen besser kennenzulernen und neue Potenziale in ihren Stoffen zu entdecken. Auch spätere Phasen des Projekts, wie Rohschnittsichtungen können im weiteren Verlauf in der doku.klasse besprochen werden. Zudem haben fünf Finalist*innen die Chance, ihren Film als Hörstück mit Deutschlandfunk Kultur zu realisieren.

Die doku.klasse ist ein Projekt von doxs! in Kooperation mit ZDF/3sat, dem Deutschlandfunk Kultur, der Grimme-Akademie und der FSF Berlin. Es wird gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.

Bewerben können sich alle Filmemacher*innen, die sich an der aktuellen
„DocuME“ Ausschreibung von 3sat beteiligen.

Alle Informationen zur Bewerbung für die doku.klasse gibt es
hier.
Einsendeschluss ist der 03.06.2024

Wir freuen uns jetzt schon auf die neuen Ideen und Projekte!

doku.klasse

Die Stipendiat*innen der doku.klasse 2023/24

Im Jubiläumsjahrgang der doku.klasse sind wir besonders glücklich über die neuen Stipendiat*innen. Aus den vielen spannenden Einreichungen wurden drei Stoffe ausgewählt. Wir begrüßen ganz herzlich Felix Rier, Florian Baron und Lea Schule im 10. Jahrgang der doku.klasse. 

Hier könnt ihr mehr über die Filmemacher*innen lesen, hier findet ihr ihre Stoffe.

Ausschreibung 2023: Die Karten werden neu gemischt!

Die doku.klasse freut sich auf den zehnten Jahrgang und lädt Dokumentarfilmer*innen ein, Filmprojekte im Rahmen der 3sat Ausschreibung „Ab 18!“ zu entwickeln. Auch in diesem Jahr werden kreative Ideen für Dokumentarfilme gesucht, die sich in besonderem Maße an junge Erwachsene richten.

Die doku.klasse bietet den Filmemacher*innen die Möglichkeit mit jungen filminteressierten Menschen in einen Dialog zu treten. Die ausgewählten Treatments werden vorab gelesen und im Rahmen eines Workshops zusammen in Duisburg diskutiert. Für die Stipendiat*innen eine Chance, die Themen und Sehgewohnheiten der jungen Teilnehmer*innen besser kennenzulernen und neue Potenziale in ihren Stoffen zu entdecken. Auch spätere Phasen des Projekts, wie Rohschnittsichtungen können im weiteren Verlauf in der doku.klasse besprochen werden. Zudem haben fünf Finalist*innen die Chance, ihren Film als Hörstück mit Deutschlandfunk Kultur zu realisieren.

Die doku.klasse ist ein Projekt von doxs! in Kooperation mit ZDF/3sat, dem Deutschlandfunk Kultur, der Grimme-Akademie und der FSF Berlin. Es wird gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.

Bewerben können sich alle Filmemacher*innen, die sich an der aktuellen
„Ab 18!“ Ausschreibung von 3sat beteiligen.

Alle Informationen zur Bewerbung für die doku.klasse gibt es
hier.
Einsendeschluss ist der 1. Juni 2023.

Wir freuen uns jetzt schon auf die neuen Ideen und Projekte!

“Es wurde eine Grenze überschritten”

2021 präsentierte Robin Humboldt in der doku.klasse seinen Stoff  Only for the moment, konnte das Projekt jedoch nicht realisieren. Was die Gründe dafür waren, erzählt der Regisseur im Gespräch mit Aycha Riffi.

A: Wie entstand Idee zu einem Film über Alex? Und was war deine Motivation dafür?
R: Die Idee war, einen Langfilm zu machen, und lag schon ein paar Jahre zurück. 2016 haben wir Alex kennengelernt, einen jungen Mann, der in Stuttgart als Escort gearbeitet hat. Wir hatten damals den Plan, eine Art Milieustudie über männliche Prostitution zu drehen. Durch das Gerd Ruge Stipendium gab es die Möglichkeit, nach Stuttgart zu ziehen und dort in einer Anlaufstelle für Sexarbeiter*innen zu arbeiten. So lernten wir Alex kennen, der sofort aus der Gruppe herausstach. Er wirkte reifer, erwachsener, und Partys waren für ihn weniger zentral. Er war eher auf einer Sinnsuche und interessierte sich für Philosophie und Psychologie. Schnell wurde uns klar, dass er einer der Protagonisten werden könnte, auch, weil man mit ihm gute Gespräche führen konnte. Und dann haben wir Zeit investiert, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, zu ihm, aber auch zu seinem Umfeld, da wir ihn in seinem Alltag und in Interaktion mit Kollegen begleiten wollten. Erst war Alex clean, doch dann fing er wieder an, Drogen zu nehmen. Das setzte eine Abwärtsspirale in Gang, die letztendlich zu seiner Inhaftierung führte. Das war der Moment, an dem wir das Projekt zum ersten Mal auf Eis legen mussten. 

A: Dein 2014 erschienener Film Am Kölnberg, den du gemeinsam mit Laurentia Genske realisiert hast, war auch eine Art „Milieustudie“.  Was interessiert dich als Filmemacher an Menschen in mitunter auch sehr schwierigen Lebenssituationen?
R: Ich möchte mehr darüber erfahren, nicht auf eine voyeuristische Art, sondern manchmal auch voller Bewunderung. Denn einige Menschen legen einen Überlebenstrotz an den Tag, obwohl sie vielleicht nicht die besten Karten hatten, und schaffen es, nicht den Lebensmut zu verlieren. In Am Kölnberg gab es eine Frau, die heroinabhängig war und deren Tag mit Konsum und Beschaffung gefüllt war, die aber auch Gedichte schrieb und Bilder malte. Ich bewundere das, weil ich glaube, dass ich mich in dieser Situation gehen lassen würde. Dokumentarfilme bieten da eine gute Möglichkeit, Zuschauer*innen zu zeigen, welche Realitäten es in unserer Gesellschaft noch gibt.

A: Manchmal werden bestimmte Vorurteile bestätigt, aber es werden auch ganz viele nicht bestätigt und man sieht etwa, wie du es eben auch beschrieben hast, dass die Menschen unglaublich kreativ sind. Das war auch ein Punkt, der uns an deinem Exposé bzw. an Alex interessiert hat. Doch das Filmprojekt war dann alles andere als einfach für dich.
R: Ja, es kam dann die Nachricht, dass Alex einen Menschen umgebracht hat und inhaftiert wurde. Da war die Motivation dann erstmal zwei, drei Jahre komplett weg, weil dies natürlich sehr erschütternd war. Und darüber hinaus wollten wir keinen Film über einen Mordfall machen, sondern über einen Menschen – der uns ab da aber abhandengekommen ist.

A: Das heißt, dass es an dieser Stelle eine „rote Linie“ für dich gab?
R: Ja, in diesem Fall wurde eine Grenze überschritten. Ich war sogar Zeuge in seinem Prozess, weil ich über Facebook lange sein einziger Gesprächspartner war. Dadurch war ich viel tiefer drin, als ich es eigentlich wollte. Das Projekt lag anschließend lange in der Schublade, bis die Idee kam, es bei der 3sat Ausschreibung “Ab 18” einzureichen. Zwischenzeitlich stand ich mit Alex in Kontakt und merkte, dass er wieder clean war und dass es möglich ist, im Gefängnis Gespräche mit ihm zu führen. 

A: Im dokumentarischen Film gibt es fast immer zwei Dinge: Einen Plan, den man sich als Filmemacher*in vornimmt und das, was letztendlich passiert. Kannst du sagen, wie du dir den Film vorgestellt hast?
R: Der Film hätte zu weiten Teilen aus dem beobachtenden Filmmaterial bestanden, das wir in den Monaten, bevor es zum Mord kam, gedreht hatten. Ergänzt hätten wir das in einer zweiten Ebene mit den Nachrichten, die er mir geschickt hat. Das waren starke Texte mit einer poetischen und literarischen Kraft. Dadurch hatten wir die Möglichkeit, aus seiner Perspektive zu erzählen und ihm auch eine Stärke zu geben.

A: Wir trafen uns mit der doku.klasse in Duisburg im Herbst 2021. Da warst du gerade mitten im Filmprojekt. Wieso hast du dich darauf eingelassen, mit uns über dein Exposé zu reden und deine Pläne und Ideen mit der doku.klasse zu teilen?
R: Es ist schwierig, wenn man eigentlich noch mitten in einem Schaffensprozess ist und dann zwischendurch Feedback bekommt. In dem Fall war es gut, weil wir schon einen ganzen Block des Films hatten. Zu dem Zeitpunkt war ich auch noch total offen, was die Form anging und war gespannt, mit jungen Menschen darüber reden zu können und zu erfahren, was sie an Alex fasziniert. Nach dem doku.klasse-Workshop hatte ich das Gefühl, dass sich die Leute dafür interessieren und es ein runder Film wird. Vorher war ich mir da nicht sicher, ob das über den schrecklichen Vorfall hinaus klappen könnte.

A: Machst du Filme für ein bestimmtes Publikum oder spielt das erstmal keine Rolle?
R: Darüber habe ich mir bisher noch nicht viele Gedanken gemacht. Man sagt, Dokumentarfilme werden eher von älteren Menschen geguckt. Aber ich glaube, man macht es eher für Leute in seinem eigenen Alter. Ich will, dass der Film Leuten aus meinem Umfeld gefällt, und sie sind auch ein Maßstab. Also wenn ich merke, meine Freunde würden sich das gar nicht angucken, dann würde ich daran zweifeln, ob es gut ist. Wobei, wenn man eine Idee aufschreibt, sind die Adressat*innen erstmal Auswahlgremien und Sendervertreter*innen, die zunächst von dem Vorhaben überzeugt werden müssen.

A: Was wir bei deinem Stoff wirklich lernen und sehen können, ist, dass Zeit eine große Rolle spielt, ebenso Zufall und Glück. Diese Faktoren sind häufig entscheidend beim Dokumentarfilm und kommen bei deinem Stoff wirklich sehr stark zum Tragen. Wann ist die Entscheidung gefallen, dass der Film nicht zu Ende gedreht wird?
R: In dem Fall hat es der Protagonist selbst entschieden. Wir hatten nach fast einem Jahr Überzeugungsarbeit und zahlreichen Briefen und Telefonaten an das Justizministerium die Genehmigung, in der JVA zu filmen. Es gab viele Vorgespräche mit Alex, und der Dreh stand. Am ersten Drehtag hat er sich dann entschieden, doch nicht zu erscheinen. Man muss dazu sagen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt seinem Alltag in der Haft komplett verweigert hat und zwischenzeitlich auch im Krankenhaus war. Aber ich weiß nicht, was ihn letztendlich dazu bewogen hat. Kurz vorher war er noch froh, dass es mit dem Film weiterging, und ich hatte das Gefühl, dass es eine Bereicherung für ihn sei, sich wieder äußern zu können Aber dann reagierte er nicht mehr auf meine Briefe. Ab dem Moment war klar, dass wir auch das alte Material nicht mehr verwenden werden.

A: Du hast so unglaublich viel Zeit und unbezahlte Arbeit in das Projekt gesteckt. Wie geht das, mit so etwas abzuschließen? Und hast du dich auf professioneller und/oder emotionaler Ebene von Alex verabschieden können?
R: Es ist schwierig, abzuschließen, und ich fühle mich durch die gemeinsame Zeit noch mit Alex verbunden. Andererseits hoffe ich aber auch, abschließen zu können. Es war manchmal eine sehr ambivalente Entscheidung, wie der Kontakt gehalten werden kann, um mit dem Film weitermachen zu können. Es ist beispielsweise wichtig, die Entscheidung zu treffen, welche Kontaktdaten man selbst weitergibt – die Büro- oder Wohnungsadresse? Und so entsteht natürlich auch ein Ungleichgewicht. Und das hat auch Alex gespürt. Das war vielleicht ein Punkt, an dem für ihn das Vertrauensverhältnis auch nicht mehr komplett da war. 

A: Das ist total nachvollziehbar von beiden Seiten. Ich frage mich in dem Kontext, ob man in der Filmschule auf das Arbeiten mit Protagonist*innen vorbereitet wird. Man hat mit realen Menschen zu tun und muss mitunter schwierige Entscheidungen treffen. Haben die aktuellen Erfahrungen Einfluss auf deine Arbeit als Filmemacher?
R: Meine Tendenz geht dahin, dass ich mir bei allen zukünftigen Projekten die Frage stelle, was es mit meiner eigenen Psyche macht. Kann ich so lange Zeit mit den Menschen an den Orten verbringen? Gibt es auch mal „schönere Orte“, wo es auch interessante Geschichten gibt? Viele Filmemacher*innen machen ja auch einen Mix und wechseln die Genres. Was auch abgewogen werden muss, ist die intensive unbezahlte Arbeit, bei der man ohne finanzielle Sicherheit weit in Vorkasse gehen muss. Oft sind es andere Jobs, die es erlauben, Zeit in den Dokumentarfilm zu stecken.

A: Respekt dafür, dass du so lange an dem Filmvorhaben festgehalten hast. Im Workshop mit der doku.klasse waren wir sehr angetan von deinem Exposé, und Alex’ Geschichte ist uns sehr nahe gegangen. Und mit der Beschäftigung haben wir – so denke ich – Einiges erfahren und lernen können. Herzlichen Dank dafür und für das Interview!




Ist die Zukunft schon da?

Wenn die Science Fiction den Status Quo überholt: Bei der Abschlusspräsentation der doku.klasse zeigte Katharina Pethke ihren neuen Film “Uncanny me”, der die schier endlosen Möglichkeiten der Digitalisierung auslotet.

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Like Father, Like Son

Im Rahmen des Workshops zum Stoff Vaterland von Antje Schneider und Carsten Waldbauer lernt die doku.klasse die beiden Protagonisten des Dokumentarfilmes kennen: den heute 23 Jahre alten Günther (Günni) und seinen Vater Steffen. Anhand der ersten Filmausschnitte wird deutlich: es handelt es sich um eine ganz besondere Vater-Sohn-Beziehung.

Mitten in Deutschland befindet sich ein zweites Amerika: die Ranch von Vater Steffen. Hier lernen Einsteiger das amerikanische Reiten und Fortgeschrittene üben sich darin, Rinder zu fangen. Günni und Steffen trainieren fast täglich das Reiten und das sogenannte Roping. Die beiden Männer leben bereits seit 10 Jahren ohne Günnis leibliche Mutter. Schon vor der Trennung lebte er vor allem nach dem Vorbild seines Vaters – ganz im Sinne eines freiheitliebenden Cowboys.

Antje und Carsten möchten den Betrachter:innen  die Höhen und Tiefen der Beziehung zwischen Günni und Steffen zeigen. Denn die enge Verbindung der beiden birgt auch Konfliktpotenzial. Dass sich die Reibung zwischen den beiden Protagonisten auch mal zu einer leichten Rivalität steigern kann, sieht man vor allem an Szenen, in denen die beiden gemeinsam trainieren. Der Ton des Vaters wird da oft rauer und fordernder. Die doku.klasse stellt sich die Frage: Empfindet Günni es als Abhängigkeit vom Vater und wenn ja, wie wird er damit umgehen?

Das bisher entstandene Filmmaterial beantwortet die Frage schon in Ansätzen, zum Beispiel, wenn man Günni dabei beobachtet, wie er am DJ-Pult steht und leidenschaftlich seine Musik mischt. Es scheint ein Teil von seinem Leben zu sein, der von den Wünschen und Erwartungen seines Vaters unberührt bleibt. Günni kann in seine ganz eigene Welt abtauchen. Antje und Carsten gehen der Frage nach, ob sich Günni langsam von seinem Vater entfernt oder ob die Zweisamkeit auch seiner Vorstellung vom Leben entspricht. Da die Filmemacher:innen noch auf der Suche nach möglichen Bildern dafür sind, fragen sie die Teilnehmer:innen der doku.klasse: „Was ist für euch ein Moment, der das Loslösen von den Eltern verbildlicht? Habt ihr eine Situation vor Augen, die diesen Zustand beschreiben kann?“ Einer Teilnehmerin fällt etwas aus ihrer eigenen Erfahrung dazu ein: „Ich glaube, vor allem die räumliche Trennung war bei mir das Ausschlaggebende, das mich zu einer eigenständigen Person gemacht hat.“ Und auch Günni ist gerade dabei sich eine eigene Wohnung am Hof zu schaffen. Eine andere Teilnehmerin berichtet, dass das gemeinsame Essen mit der Familie plötzlich im Alltag wegfiel, als sie anfing für sich selbst zu kochen. Derzeit verbringen Günni und Steffen gerne gemeinsam einen Abend auf der Couch, schauen Filme und bestellen sich Pizza. Günni sehnt sich aber auch immer öfter danach, mit seiner Freundin Zeit zu verbringen oder ein Eis essen zu gehen. Antje und Carsten müssen nun für sich entscheiden, welche Situationen sie genauer unter die Lupe nehmen wollen.

Günni und Steffen tragen ihr gegenseitiges Versprechen auf ewigen Zusammenhalt als Tätowierung auf der Haut: Dasselbe Bild, jeder Strich, bis ins kleinste Detail. Zum Tattoo-Termin haben die Protagonisten die Filmemacher:innen nicht eingeladen, weil ihnen die Symbolschwere dieser Situation nicht bewusst war. 2023 möchten Vater und Sohn in die Staaten fliegen, um gemeinsam bei einem Roping Wettbewerb anzutreten. Die doku.klasse wünscht Antje Schneider und Carsten Waldbauer, dass sie bei diesem Event und anderen Gelegenheiten viele weitere, aussagekräftige Bilder einfangen können und freut sich den fertigen Film zu sehen.