Atelier

Wer Veränderung möchte, sollte die Norm ändern

Um sich der Protagonistin Lotti und ihrem Umfeld anzunähern, bedient sich Regisseurin Lea Schlude der Familienaufstellung, einer Methode aus dem Bereich der Familientherapie, mit der zwischenmenschliche Beziehungen veranschaulicht werden. Die doku.klasse nutzt dafür kleine Tierfiguren, die die Regisseurin mitgebracht hat. Diese werden auf einem Tisch (der das Ruhrgebiet darstellt) angeordnet, um der Gruppe einen greifbaren Zugang zur Thematik ihres Projekts „Lotti auf Schicht“ zu ermöglichen.

 

Lotti ist eine Meisterin im Spagat und jongliert zwischen ihren verschiedenen Rollen. Als einzige Frau und queere Person in der Produktion eines führenden Stahlunternehmens im Ruhrgebiet behauptet sie sich in einer männerdominierten Welt und setzt sich als Betriebsrätin für eine grüne Transformation der Stahlindustrie ein. Nach Schichtende kümmert sie sich um ihren Vater. Ein Leben immer in Bewegung und unter Beobachtung. Von den Medien und vom firmeneigenen Marketing wird sie aufgrund ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Identität als Role Model gefeiert. Im Kollegenkreis erfährt sie häufig Vorurteile und wird Zeugin von Homophobie und Sexismus. Doch die 26-Jährige geht mutig ihren Weg und sucht den Strukturwandel – auf allen Ebenen.
Dass Lea ein Gespür für das Zwischenmenschliche hat, zeigt sich bereits in ihrem Debütfilm „San Cipriano Road“ (2019) so wie im Recherchematerial zum neuen Stoff.

 

Mit dieser Beobachtung werden neue Figuren und Gegenstände angeordnet und mögliche Szenarien spielerisch dargestellt. „Lotti ist die Mandarine, weil sie unterschiedliche Kammern hat und Lotti so vielschichtig ist“, schlägt eine Teilnehmerin vor. Die Figur eines Tukans steht stellvertretend für vorherrschende Probleme im Arbeitsmilieu der Stahlindustrie, wie beispielsweise Sexismus und Alkoholismus. Die doku.klasse stellt die Frage, wie Lea die Probleme der Arbeitswelt authentisch einfangen will. Zudem wird hinterfragt, wie unbefangen Lotti vor der Kamera über ihre Erfahrungen sprechen kann. Lea vermutet, dass es eine Herausforderung sein könne, ehrliche Antworten von Lottis Kollegen zu genannten Problematiken einzufangen. Die Filmemacherin erklärt aber auch, dass Lotti ein gutes Standing in der Firma habe, für sich und den Betrieb einstehe. Lotti positioniert sich öffentlich für eine klimafreundliche Zukunft der Stahlindustrie und setzt sich für einen geschlechtergerechten und strukturellen Wandel in der Branche ein. Sie appelliert an ihre Firma, dass sie Veränderungen und Nachhaltigkeit zulassen muss. Im aktivistischen Kontext artikuliert sich Lotti sicherlich anders als im Umgang mit ihren Kollegen. Mit ihrer feministischen Haltung lässt sie sich jedoch von niemandem unterkriegen. Ursprünglich verschlug es die Regisseurin für einen anderen Film nach Gelsenkirchen. Sie zog dort in eine WG und lernte so ihre jetzige Protagonistin kennen. Lea will von der doku.klasse erfahren, welche Bilder zu vermeiden sind, wenn das Ruhrgebiet porträtiert wird. Schnell werden klischeehafte Darstellungen von Armut und grauer Industriekultur genannt. Auch der Gebrauch von Musikstücken, die vermeintlich mit den einzelnen Orten assoziiert werden, seien oft stereotypisch. Gemeinsam mit Lea sucht die doku.klasse nach repräsentativen Bildern und wünscht sich mehr private Einblicke in Lottis Leben. Der „Tag der Arbeit“ bietet für die Regisseurin zudem eine optimale Möglichkeit, die junge Generation in der Industrie zu Wort kommen zu lassen. „Ich will den Film für junge Leute erzählen, die überlegen, ob sie studieren wollen oder nicht und wie die Arbeitswelt und die Lohnarbeit aussieht und welche Perspektiven sie ihnen bietet“, bekräftigt Lea abschließend.