Atelier

Ein Zimmer für Zwei

Beim diesjährigen doxs!-Festival liefen gleich drei Filme, deren Stoffe im vergangenen Jahr in der doku.klasse diskutiert wurden. Den Schlusspunkt bildete die Festivalpremiere von „Du warst mein Leben“ von Rosa Hannah Ziegler, einem dokumentarischen Kammerstück über eine spannungsreiche Mutter-Tochter-Beziehung. Die Intensität des Gezeigten ließ niemanden kalt.

„Wir könnte ja heute vielleicht mal ein bisschen reden. Dann gucken wir einfach, was passiert.“ (Yasmin)

Zwei Frauen in einem vielstöckigen Beton-Hotel auf Borkum. Im Hintergrund das Meer, der Ausblick ist diesig, es könnte schöner sein. Nach einer langen Zeit des Schweigens starten Yasmin und ihre Mutter Eleonore einen neuen Versuch, um sich auszusprechen und zueinander zu finden. Einfach gucken, was passiert. Das Gespräch beginnt stockend, gewinnt an Fahrt, bricht ab, flammt wieder auf, fasert aus. Reden, nicht reden, nur dasitzen, rauchen. Die Vergangenheit hängt wie Smog in der Luft, die Möwen tanzen über dem Balkon.

2016 stellte Rosa Hannah Ziegler ihren Stoff in der doku.klasse vor. Damals war noch völlig unklar, ob es überhaupt zu dem Treffen zwischen Mutter und Tochter kommen würde. Zu tief war der Bruch zwischen den beiden, zu groß die Angst vor einem Scheitern der Begegnung. Und Eleonore musste bereit und stark genug sein, um sich der Kamera zu stellen und öffentlich darüber zu sprechen, wie sie Yasmin und ihren Bruder als Kinder vernachlässigt und nächtelang sich selbst überlassen hat.

„Es war ein langer Annäherungsprozess“, erzählte Rosa Hannah Ziegler nach der Festivalpremiere von „Du warst mein Leben“. Ein halbes Jahr lang habe sie sich wieder und wieder mit Eleonore getroffen, damit sie ein Gefühl füreinander bekämen „Wir saßen bei ihr in der Küche und redeten – und irgendwann begann sie, immer mehr von ihrem Leben zu erzählen.“ Was ihr wichtig war: „Das Bedürfnis, sich mit Yasmin auszusprechen und dabei gefilmt zu werden, musste von Eleonore kommen.“

Das Risiko, dass vor oder auch noch während des Drehs das Projekt platzen könnte, blieb bis zuletzt bestehen. Die Regisseurin bedankte sich ausdrücklich bei ihrem Redakteur Daniel Schössler von 3sat, der ihr für jeden Fall die volle Unterstützung zugesichert hatte. Schössler war einer von mehreren Kooperationspartnern und Förderern der doku.klasse, die sich im Duisburger filmforum eingefunden hatten: Katya Mader, Ingrid Gränz (3sat-Filmredaktion), Johannes Dicke (Stabsstelle Programmplanung ZDF/3sat) waren wie in den Vorjahren gekommen ebenso wie Ruth Schiffer, die Filmreferentin des Landesministeriums für Kultur und Wissenschaft. Dazu hatten mit Florian Baron und Kilian Helmbrecht zwei weitere Stipendiaten der doku.klasse 2016 den Weg ins Ruhrgebiet gefunden – und mit Pantea Lachin, Gerd Breiter und Andreas Bolm drei Akteure der aktuellen Klasse. Aycha Riffi von der Grimme-Akademie führte durch die Veranstaltung.

„Ich möchte wieder eine Basis mit dir finden. Du und dein Bruder seid das, was mich am Leben hält.“ (Eleonore)

„Du warst mein Leben“ ist ein extrem dichtes, auf den Punkt komponiertes dokumentarisches Kammerstück. Im Narrativ der Dialoge und langen Gesprächspausen formiert sich die Geschichte einer fortdauernden Enttäuschung, von alten und neuen Verletzungen und Vorwürfen und permanenten Missverständnissen. Kommunikation ist für Yasmin und Eleonore der einzige Weg zur Klärung, vielleicht sogar Versöhnung, und doch scheint sie rettungslos verfahren zu sein. Ein Hin und Her, Vor und Zurück. „Du warst mein Leben“ ist kein leichter Film. Umso beeindruckender war die Reaktion des mehrheitlich jungen Publikums. Hochkonzentriert verfolgten die Schülerinnen und Schüler den emotionalen Schlagabtausch zwischen Tochter und Mutter, in dem sich die Kräfteverhältnisse und Sympathien immer wieder ändern, und wendeten den Blick eine Dreiviertelstunde lang nicht von der Leinwand. Merklich mitgenommen brauchten sie danach eine Weile, um Worte zu finden für das Gesehene.

Der Film, sagte ein Schüler, könnte anderen Familien, in denen es ähnliche Verwerfungen gäbe, helfen, ihre Probleme aufzuarbeiten. Rosa Hannah Ziegler pflichtete dem bei: „Eine Intention ist zu zeigen, wie wichtig es ist, miteinander zu reden.“ Einem anderen Zuschauer imponierte die Intimität des Szenarios. Wie es möglich sei, eine solche Intensität und Nähe in einer Drehsituation herzustellen? Ziegler: „Der Kameramann ist ein empathischer und sensibler Mensch. Auch wenn wir im Film nichts gesagt haben, waren wir Gesprächspartner. Die Auseinandersetzung war ja auch nicht vorbei, wenn die Kamera aus war. Sie fand permanent statt, egal ob wir sie aufzeichneten oder nicht.“

Nach zwei Tagen, so Ziegler, sei der Film im Grunde abgedreht gewesen. Danach hätten sich Mutter und Tochter so weit „auseinander dividiert“, dass nur noch separaten Aufnahmen möglich gewesen seien. Und doch sind beide laut Regisseurin begeistert von dem Ergebnis: „Für Eleonore ist der Film eine Plattform, um auszusprechen und loszuwerden, was ihr auf der Seele lag. Er stärkt sie und unterstützt sie dabei, ihre eigene schmerzhafte Familiengeschichte aufzuarbeiten.“

„Die Beziehung zwischen uns wird so lange nicht funktionieren, wie ich nicht hundertprozentig ehrlich sein kann zu dir und dir alles sagen kann, was ich fühle und denke.“ (Yasmin)

„Du warst mein Leben“ ist das Anschlussprojekt zu Zieglers Film „A Girl‘s Day“, der 2015 bei doxs! gezeigt wurde und in dem Yasmins Schritt zu einem autonomen und selbstbestimmten Leben erzählt wird nach einer jahrelangen Odyssee durch verschiedene Heime und Pflegefamilien. Er setzte ein optimistisches Signal, dokumentierte einen Aufbruch und Neuanfang. Yasmin war in der Spur. Diesen Weg hat sie fortgesetzt. Im neuen Film tritt sie noch einmal gereifter und reflektierter auf, auch entschiedener und manchmal härter in der Konfrontation. Sie weiß nun besser, wo sie steht und was sie will.

Als Rosa Hannah Ziegler damals der doku.klasse ihr Konzept präsentierte, waren einige WorkshopteilnehmerInnen zunächst skeptisch im Hinblick auf die Privatheit der geplanten Konstellation. Sie würden, so der Tenor, bei einem Treffen dieser Art nicht gefilmt werden wollen. Der fertige Film hat diese Zweifel zerstreut. Bengisu Yüksel meldete sich während der Diskussion zu Wort und zeigte sich „sehr berührt“. Die Regisseurin hatte die Vorbehalte der Klasse damals ernstgenommen und sich Gedanken darüber gemacht, wie sie eine solche Situation für ein Publikum darstellen könnte, ohne ihre Protagonistinnen vorzuführen. „Du warst mein Leben“ zeigt, wie es geht.