Eine Filmkritik von Finn Schenkin zu Florian Barons Film „Joe Boots“ (2017) – entstanden in der 3sat-Reihe “Ab 18!”
Der Dokumentarfilm „Joe Boots“ von Florian Baron aus dem Jahr 2017 erzählt die Geschichte des gleichnamigen Protagonisten, der sein Leben freiheraus schildert. Der Zuschauer erfährt, wie der junge US-Amerikaner Joe Boots zum Militär kam, was er dort erlebte und wie er anschließend zwischen Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Depression und Alkoholsucht „mit dem Tod tanzte“. Dabei gelingt es dem Film durch seine geschickte Verknüpfung von Bild und Ton, die für den Zuschauer surreale Welt des kriegsgeschädigten Protagonisten auf die bekannte Alltagswelt zu übertragen. So ist zu verstehen, wie der Krieg einen Menschen verändern kann.
„I was such a fucking asshole“ – mit diesen rauen Worten stellt sich die charismatische Stimme aus dem Off mit Südstaatenakzent vor. Es dauert eine Weile bis der Zuschauer den Protagonisten das erste Mal sehen kann – und dann auch nur aus der Verfolgerperspektive. Sein Gesicht ist unter den langen lockigen Haaren erst zu erkennen, als er seelenruhig eine Yoga-Übung macht. Dieser Mensch scheint nicht zur anfänglichen Beschreibung zu passen, doch Joe erklärt, wer er war und was aus ihm wurde.
Bereits als Kind interessiert er sich für das Militär und nach den Terroranschlägen vom 11. September beschließt er, der Armee beizutreten. Sein Leben verändert sich drastisch mit einem Anruf: Er wird einer Operation im Mittleren Osten zugeteilt. Mit klaren Worten schildert er das Suchen nach Bomben, Schussgefechte mit Kindern und das Gefühl, dass jeder Tag der letzte sein könnte.
Als er in die USA zurückkehrt, ist nichts mehr wie es war. Er fühlt sich taub, hat sich nicht mehr unter Kontrolle, fängt an zu trinken und ist wütend auf sich und die Welt – eine Posttraumatische Belastungsstörung, wie die Ärzte ihm diagnostizieren. Joes Leben gerät vollkommen aus den Fugen, bis eine weitere Diagnose und eine wichtige Erkenntnis ihn auf einen neuen Weg bringen.
Der Film lässt den Zuschauer am Leben des Protagonisten teilhaben. In einigen Szenen spricht Joe direkt in die Kamera – sei es während er beim Autofahren singt oder Paprika schneidet. Diese Alltagsmomente verlieren sich jedoch nicht in Belanglosigkeit, sondern machen deutlich, welchen großen Einfluss der Militäreinsatz nach wie vor auf Joes Leben hat. So ist das Singen für ihn eine Bestätigung, dass er wieder ein glücklicherer Mensch ist und beim Schneiden der Paprika stöhnt er, als hätte er Schmerzen – es erinnert ihn an den Krieg.
Während der Zuschauer noch darüber nachdenkt, wechselt der Film plötzlich die Perspektive: Die Kamera befindet sich nicht mehr neben ihm, sondern verfolgt wieder seine eiligen Schritte. Das Gefühl ihm nah zu sein verschwindet. Immer, wenn man glaubt ihn verstehen zu können, bietet der Film eine neue Wendung, eine neue Kameraperspektive oder einige besondere Szenen, die befremdlich wirken.
In diesen Filmabschnitten wird die vertraute Umwelt einer Stadt mit ihren Bewohnern und deren alltäglichen Tätigkeiten entfremdet. Das geschieht durch einen Zeitlupen-Effekt, der Menschen wie Puppen wirken lässt und Bildfiltern wie einem Grünstich oder hoher Farbsättigung.
Was sich dabei nicht ändert, ist Joes Stimme. Eine Szene beispielsweise zeigt in Zeitlupe Blätter, die explosionsartig von einem Laubgebläse aufgewirbelt werden, während er von einer detonierenden Bombe erzählt. Dadurch untermalen die Bilder stimmungsvoll Joes Geschichte. Er erklärt zudem, dass der Krieg den Körper auf Hochtouren bringt. Dadurch, scheint die Zeit stillzustehen. Der Zuschauer spürt, wie dabei das Bekannte surreal wirken kann.
Surreal und seiner eigentlichen Persönlichkeit fremd waren auch jene Momente, die Joe während seiner PTBS und Alkoholsucht erlebt hatte. Dem Film gelingt es, dem Zuschauer nicht nur Joes Geschichte emotional zu erzählen, sondern seine erlebte Entfremdung und Kriegsgeschichte auch filmisch erfahrbar zu machen.
So schafft es Florian Barons Produktion, dem Zuschauer das schwierige Thema PTBS durch die spannende Geschichte des Protagonisten näherzubringen. Die starke Erzählstruktur wirkt dabei wie ein Spiegel zum Protagonisten: außergewöhnlich und sich überschlagend. „Joe Boots“ ist ein Dokumentarfilm mit Tiefe, der durch das besondere Zusammenspiel des Protagonisten und den filmischen Elementen fesselt.
In voller Länge ist „Joe Boots“ in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln hier in der 3sat-Mediathek zu finden. Eine deutsche Voice-Over-Fassung gibt es hier.